Fremde am Meer
war.
Es schmerzte mich immer noch, mir ins Gedächtnis zu rufen, was darauf gefolgt war. Doch mit der Zeit hatten die Erinnerungen eine andere Qualität angenommen. Oder vielleicht war auch meine Art, mit ihnen zu leben, eine andere geworden. Die Glückseligkeit, die dem unvermeidlichen Ende vorausging, strahlte ebenso wie der Schmerz nicht mehr mit derselben durchdringenden Helligkeit wie damals.
Ich suchte nach meinen Erinnerungen. Den wichtigsten. Den kostbarsten. Ich dachte an meine Ankunft hier, und der Film verringerte seine Geschwindigkeit, bis er unerträglich langsam lief. Es war, als wollte ich sichergehen, dass er anhielt, bevor er zu weit vorspulte, bis zu der Stelle, der mein Gedächtnis auszuweichen gelernt hatte. Also kehrte der Film, der meine Erinnerungen bebilderte, immer wieder zum Anfang zurück wie eine zerkratzte Schallplatte. Ich konnte meine Ankunft in diesem Land ins Auge fassen, doch weiter kam ich nicht. Die Folgen meiner spontanen Reise auf die andere Seite der Welt waren noch unsichtbar für mich.
Es gelang mir nicht, die Erinnerung an meine überschäumende Freude abzurufen, an die Intensität der Farben und das Gefühl absoluter Freiheit. An die Liebe. Stattdessen sah ich, als ich an jenem Tag dort am Strand saß, alles durch einen Filter, den ich mir geschaffen hatte, um zu überleben. Ich wollte nicht das Glück heraufbeschwören, das der Hölle vorausging. Ich hatte mich gezwungen, die Erinnerung daran zu unterdrücken, den wunderbarsten Moment meines Lebens zu verdrängen, um den Rest meiner Tage ohne ihn ertragen zu können. Inzwischen ist es anders, aber damals war es mir unmöglich, auf mein verlorenes Glück zurückzuschauen.
Ich war am frühen Nachmittag aus Auckland losgefahren. Ich ließ mir Zeit, aus mehreren Gründen. Ich wollte zu einem neuen, gemächlicheren Rhythmus finden. Ich wollte, dass die fremde Landschaft langsam Gestalt annahm, sehen, wie das Licht allmählich den Grünton der Hügel veränderte. Die Weite des Himmels ganz in mir aufnehmen. Und schließlich die des Meeres. Ich wollte mir das Bild der Unendlichkeit ganz zu eigen machen. Ich suchte einen Weg zurück ins Leben.
Und so war ich von der Straße auf das trockene, sandige Gras abgebogen und hatte geparkt. Warum dort? Warum genau in diesem Moment?
Ich versuchte, die Abschnitte meiner Reise von einer höheren Warte aus zu betrachten. Mit leidenschaftslosem und objektivem Blick. Und von oben sah es seltsam aus: das Taxi, das sich durch die geschäftigen Straßen von Nordlondon auf Heathrow zubewegte. Der ereignislose Flug nach Singapur und zwei Nächte in einem unpersönlichen Hotelzimmer. Von Leuten und ohne Zweifel unzähligen Möglichkeiten umgeben und doch eingeschlossen in meine eigene Sphäre. Dann der Flug nach Auckland: ein langer Schlaf, gebettet in eine Kapsel, die durch die Luft raste. Ein weiteres Hotel. Stadtbesichtigung. Zwischenmenschliche Begegnungen, kurz und unverbindlich. Dabei musste es etliche potenziell verheißungsvolle Situationen gegeben haben.
Aber erst hier, an diesem verlassenen Strand, der sich vor mir erstreckte, machte ich wirklich Halt.
Bevor sie aus dem Wagen steigt, legt sie erst ihre Ohrringe ab, dann ihre Armbanduhr und die Spangen, die ihr Haar zusammenhalten. Dann ihre Schuhe. Sie muss sich von allem befreien, was sie mit der Person verbindet, die sie war. Ihre Vergangenheit abstreifen. Da ist sie, nur mit einem leichten Baumwollkleid bekleidet. Sie hält die Autoschlüssel in der Hand, doch das ist auch schon alles, was sie bei sich trägt. Während sie die Stufen hinuntersteigt, die zum Strand führen, zaust der Wind ihre Haare und lüpft ihren Rock. Unten bleibt sie im Schatten der Bäume stehen und schaut auf den Strand und das Meer.
Sie ist immer noch Marion Flint. Aber nicht mehr dieselbe wie zuvor. Sie ist immer noch sechsunddreißig. Sie befindet sich erst seit ein paar Tagen hier, auf der anderen Seite der Erde. Doch die alte Welt verblasst rasch. Etwas Neues beginnt. Hier, allein in einer Umgebung, die ihre Anwesenheit nicht zur Kenntnis nimmt, verspürt sie endlich eine Art Hoffnung. Sie kann atmen. So fühlt es sich an. Als wäre sie eben geboren, genau jetzt, genau hier, von allem erlöst, was vorher war.
Der riesige Strand liegt vor ihr. Kein Mensch ist zu sehen. In der Ferne zittert die Luft über dem von der letzten zurückweichenden Welle erzeugten Spiegel. Sie steht reglos da, die Füße tief im warmen Sand. Es ist, als wollte sie ewig
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