Fremde am Meer
hierbleiben. Die Welt immer so sehen, wie sie sich in genau diesem Moment zeigt.
Ich bin nur ein Stäubchen, denkt sie. Ein Sandkorn.
Sie fängt an, aufs Meer zuzulaufen. Der Sand ist sehr heiß, sie muss rennen, um hinzugelangen. Sie lässt die Wellen ihre Beine umspülen, und sogar hier, wo das Wasser ihr nur bis zu den Waden reicht, kann sie den Sog spüren, mit dem es ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Sie bückt sich, benetzt ihre Hände und legt sie sich auf die Wangen. Das Wasser ist kühl auf ihrer Haut und salzig auf ihrer Zunge.
Sie geht am Saum des Ozeans entlang. Sein Tosen erfüllt die Luft und wird nur vom gelegentlichen Schrei eines Vogels übertönt. Es gibt keine anderen Gerüche als die der See. Keine anderen visuellen Eindrücke. Das Meer beansprucht ihre Sinne ganz und gar. Sie ist vollkommen von ihm umfangen, winzig wie die Muscheln, die in der Brandung tanzen.
Sie läuft weiter. Bleibt hin und wieder stehen, um einen glatten Kieselstein oder eine blank polierte Muschelschale aufzuheben. Sie geht viel schneller, als sie eigentlich wollte, lässt sich vom Wind die Haare zerzausen und von der salzigen Gischt besprühen. Der Strand ist endlos, eine schön geschwungene Bucht folgt auf die nächste. Und nirgends die Spur eines Menschen.
Irgendwann verlangsamt sie ihr Tempo, und als sie ein Stück weiter oben einen Baumstamm sieht, hält sie darauf zu. Wieder muss sie über den heißen Sand rennen.
Erst als sie fast darüber stolpert, erkennt sie, was da ist. Und für den Bruchteil einer Sekunde überlässt sie die Interpretation dem Teil ihres Gehirns, der bisher Steine und Muscheln zur Kenntnis genommen hat, die Schönheit der brausenden Wogen und der majestätischen Brandung. Umrisse und Formen, Farben und Licht.
Diesen kurzen Moment lang ist es nur Natur. Sonst nichts.
Aber es ist der Körper eines Mannes. Und zwar ein nackter.
Es ist ein Mann, der bäuchlings auf einem Badelaken liegt, eine Kameratasche neben sich.
Er muss ihre Gegenwart gespürt haben, denn er wacht mit einem Ruck auf und wendet ihr den Kopf zu, ohne sich umzudrehen. Sie tritt ein paar Schritte zurück.
»Entschuldigung«, sagt sie. »Ich habe Sie gar nicht gesehen.« Was durchaus der Wahrheit entspricht.
Er müht sich, das Laken um sich zu wickeln, bevor er aufsteht.
»Ah …«, sagt er, das Handtuch endlich um die Hüften geschlungen, und stolpert ein wenig. »Ich muss mich auch entschuldigen. Ich dachte, ich wäre allein hier.«
Dann lächelt er.
Er ist gebräunt, verbringt offensichtlich viel Zeit im Freien. Sein Haar ist von der Sonne gebleicht, nahezu weiß, lockig, und reicht ihm fast bis zu den Schultern.
»Drehen Sie sich um, dann ziehe ich mir Shorts an«, sagt er, und sie gehorcht.
»Ich wollte zu dem Baumstamm da«, sagt sie und geht auf den ein paar Meter entfernten Stamm zu. Sie setzt sich darauf und hebt erst einen Fuß, dann den anderen aus dem heißen Sand, während er sich nähert und dann neben ihr Platz nimmt. Er hält ihr eine Flasche Wasser hin, und sie trinkt. Sie hat gar nicht gemerkt, wie durstig sie ist. Das kühle Wasser tröpfelt ihr übers Kinn auf die Brust.
Er beobachtet sie lächelnd.
»Nie ohne Wasserflasche aus dem Haus gehen«, sagt er. »Und ohne Sonnenschutz. Beides lebenswichtig hier.«
Er ist kein Kiwi. Amerikaner vielleicht.
»Oh, ich hatte gar nicht vor, so weit zu laufen«, sagt sie. »Ich wollte einfach nur für eine Weile aus dem Auto raus. Aber dann habe ich angefangen, am Meer entlangzuwandern, und irgendwie ging es so immer weiter …«
Er schaut hinaus auf die See.
»Es ist leicht, sich hier mitreißen zu lassen. Es fühlt sich ein bisschen an, als hätte man die ganze Welt für sich. Und als ob alles möglich wäre.«
Jetzt ist es an ihr zu lächeln. Und sie nickt. Denn genau so empfindet sie.
Er heißt Michael. So wird sein Name nicht geschrieben, aber das weiß sie noch nicht.
Er ist Fotograf. Aus Kanada. Beruflich hier.
Was kann sie ihm erzählen? Wer ist sie?
»Ich heiße Marion«, sagt sie. Wenigstens dessen ist sie sich sicher. »Marion Flint. Ich mache Ferien hier, glaube ich. So eine Art Urlaub. Vielleicht ist es auch eine Art Auszeit. Eine Pause. Zwischen einem Leben und dem nächsten.«
»Allein?«, fragt er, und sie nickt.
»Ich brauchte einfach ein bisschen Zeit für mich …« Sie sieht ihn nicht an.
Er sagt nichts dazu.
»Haben Sie was dagegen, wenn ich ein paar Fotos mache?«, fragt er.
Sie lacht verlegen.
»Von mir?«
Er
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