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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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also keine Bedeutung mehr. Ich glaubte nicht länger daran. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass er nicht existierte. Ich konnte höchstens aus Erfahrungen lernen und meine Reaktion auf eine künftige Situation danach ausrichten. Aber nicht einmal dieser Möglichkeit war ich mir sicher. Nur wenige Menschen scheinen aus Erfahrung zu lernen. Und niemand kann eine frühere Handlung ungeschehen machen.
    Ich glaube nicht, dass meine veränderte Sicht auf die Dinge etwas mit Sehnsucht nach Vergebung zu tun hatte.
    Oder vielleicht doch. Dabei war mir jedoch nur wichtig, dass ich mir selbst vergab.
    Zur Zeit der alles bestimmenden Ereignisse in meinem Leben hatte ich das ganz anders gesehen. Ich sah mich als einen Menschen, der verschiedene Optionen hat, der sich bewusst für eine von ihnen entscheidet und daher für seine Taten auch voll verantwortlich ist. Es gab niemanden, der mir zu verstehen half, dass es sich keineswegs um überlegte Entscheidungen handelte, sondern um instinktive Reaktionen auf Umstände, denen ich unterworfen war und für die ich nichts konnte. Vielleicht versuchte ich jetzt, mir durch eine veränderte Perspektive inneren Frieden zu verschaffen. Ich wünschte mir eine Art moralische Amnestie, die ich mir nur selbst gewähren konnte.
    Es war nicht so, dass ich keine Verantwortung für mein Handeln übernehmen wollte. Doch nun wollte ich endlich lernen, mir selbst zu verzeihen.
    Es war keine bewusste Analyse der Geschehnisse, die mich an diesen Punkt gebracht hatte. Aber ich erkannte, dass sie in mir weiterexistierten, alle Momente meines Lebens. Bedeutsame wie unwichtige, sie waren da, säuberlich voneinander getrennt. Ich hatte stets darauf geachtet, sie in meinen Hinterkopf zu verbannen, hatte sie verdrängt, aber mit einem ständigen Wissen um ihr Gewicht gelebt. Manchmal hatte ich befürchtet, ich würde sie vergessen. Deshalb hatte ich mir ab und zu einen Blick auf sie erlaubt. Nur um sicherzugehen, dass sie noch alle da waren, meine Erinnerungen.
    Wie deutlich sie auch sein mochten, ich wusste, dass jede einzelne mehr umfasste, als mir vor Augen stand. Dass es noch andere, ebenso zulässige Perspektiven auf sie gab. Und dass es die Menschen, die mir vielleicht andere Blickwinkel hätten eröffnen können, nicht mehr gab. Ihre Erinnerungen, unwiderruflich verflochten mit meinen, waren für immer unzugänglich. Ich wusste, dass meine Wahrheit keine vollständige war, aber ich musste mich mit ihr begnügen. Also wachte ich regelrecht verzweifelt über sie. Wie einen in seine Einzelaufnahmen zerschnittenen Film speicherte ich die Erinnerungsbilder ab. Ich musste mir immer Zugang zu seinem Anfang verschaffen können. Damit ich in der Lage war, die anderen Szenen zu ertragen. Sie mir zu eigen zu machen. Mit ihnen zu leben.
    Denn sie waren alle da, als Einzelaufnahmen, wie in separaten Kästen verwahrt.

5
    Ikas Frage während jener frühen gemeinsamen Mahlzeit weckte Erinnerungen. Bei manchen von ihnen verweilte ich selten. Sie siedelten im fernsten Winkel meines Gedächtnisses als stets präsentes Hintergrundmurmeln, ein wogendes Meer in einem dunklen, beengten Raum. Nie sichtbar und doch immer gegenwärtig. Diese Erinnerungen bestimmten alles. In gewissem Sinne waren sie der Grund dafür, dass ich lebte, wo ich lebte, dass ich tat, was ich tat, vielleicht dafür, dass ich überhaupt lebte. Sie erfüllten meine Gedanken und Träume, aber nie in greifbarer Form, nur als Duft, als Farbe, als Stimmung, die trotz ihrer Flüchtigkeit Voraussetzung für alles andere zu sein schien. Mein Verhältnis zu diesen Erinnerungen ähnelte irgendwie dem zu meinem Herzen: Ich vertraute darauf, dass sie da waren und mich am Leben erhielten, widmete ihnen aber kaum einen bewussten Gedanken.
    Nachdem Ika mich verlassen hatte, ging ich hinunter zum Strand und ließ meine Gedanken schweifen. Ich dachte an die Reise. Daran, wie ich hier auf der anderen Seite der Erde gelandet war.
    Vor fast fünfzehn Jahren, im Alter von sechsunddreißig Jahren. Es war Februar, also noch Sommer. Ich weiß nicht, warum ich dieses Land und speziell diesen Ort gewählt hatte. Vielleicht war es die schiere Distanz gewesen. Das Bedürfnis, mich so weit wie möglich von meinem bisherigen Leben zu entfernen. Ich erinnerte mich nur vage daran, wie ich hierhergekommen war. Es schien mir, als hätte sich die Zeit zwischen dem Moment, in dem ich barfuß auf dem gefliesten Badezimmerboden eines Hauses in London stand, und dem Gefühl von warmem Sand

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