Fremde am Meer
packt bereits die Kamera aus. Sie sieht teuer aus und professionell.
Sie zieht sich den Rock über die Beine und umschlingt sie mit den Armen.
»Sehen Sie mich nicht an«, sagt er. »Vergessen Sie, dass ich hier bin. Bleiben Sie in Ihrer eigenen Welt. Schauen Sie aufs Meer.«
Beim Fotografieren spricht er über sein Projekt. Er ist am Ende einer Tour quer durchs Land, bei der er versucht hat, das Leben an den entlegensten Orten der Küste einzufangen. Er will mit seinen Bildern Menschen porträtieren, die sich dort angesiedelt haben, wo Land und Meer aufeinander treffen. Die nahe der unzähmbaren See leben – und von ihr.
»Vor ein paar Jahren bin ich norwegischen Fischern auf die Nordsee gefolgt. Es ist nicht das Meer, das mich interessiert, es sind die Menschen, die zulassen, dass es ihr Leben bestimmt. Die es schaffen, nach seinen Bedingungen zu leben. Für mich ist das ein bisschen wie die Ausrichtung nach einem spirituellen oder religiösen Glauben. Ein Glaube ist etwas unendlich viel Größeres als man selbst, das man nicht kontrollieren kann. Es erfordert Mut, sich ihm zu überantworten, zu akzeptieren, dass man in der Hand einer höheren Gewalt ist. Sie faszinieren mich, die Menschen am Meer. Und ich versuche, sie in meinen Bildern einzufangen.«
Mit einem Lächeln senkt er die Kamera und zuckt die Achseln.
»Wahrscheinlich gelingt mir das gar nicht.«
Er schraubt den Deckel auf das Objektiv und legt den Apparat wieder in die Tasche.
»Haben Sie Hunger?«, fragt er, es scheint, als wolle er das Thema wechseln.
Und sie merkt, dass sie tatsächlich Hunger hat.
»Ja, ich sollte zu meinem Wagen zurückgehen«, sagt sie und steht auf.
»Meiner ist vermutlich näher«, erwidert er. »Gleich da oben hinter den Dünen. Wenn Sie gegrillte Languste mit Brot und Salat mögen, können Sie gern mein Essen mit mir teilen.«
Sie rennen über den heißen Sand. Ihre Fußsohlen brennen, doch sie fühlt sich leicht, wie vom Wind getragen.
»Hier, nehmen Sie den«, sagt er, als sie seinen Jeep erreicht haben, und streckt ihr einen verblichenen Sonnenhut hin. Der Geländewagen parkt im Schatten eines hohen Baums. »Sie müssen aufpassen, die Sonne ist gefährlich hier. Setzen Sie ihn auf. Und drehen Sie sich um.«
Sie tut es, und er verreibt Sonnenschutz auf ihrem Rücken und ihren Schultern. Seine Hand hebt sanft ihre Haare an, um ihren Nacken zu erreichen.
Wer bin ich?, denkt sie. Wer ist diese Frau, die hier steht, barfuß an einem Strand, und einem Fremden erlaubt, ihr Rücken und Schultern einzucremen? Nacken und Arme? Sie lächelt – fast gegen ihren Willen. Das kann unmöglich ich sein. Sie ist neu, und die Welt ist neu.
»Das ist ein Pohutukawa«, sagt er, nach oben deutend. »Dieser Baum, der uns Schatten spendet. Vor einem Monat war er noch voller roter Blüten. Es ist komisch, aber sie sind ebenso wie die des Jacaranda schwer zu fotografieren. Auf Bildern sehen sie nie so fantastisch aus wie in Wirklichkeit. Aber das gilt vermutlich für vieles …«
Er holt einen niedrigen Klappstuhl hervor, und sie nimmt Platz und schaut zu, wie er den kleinen Grill in Gang setzt. Er hockt sich vor ihr auf die Erde, und während er beschäftigt ist, erzählt er ihr von seiner langen, mäandernden Reise durch das Land, vom hohen Norden bis ganz hinunter nach Bluff und Stewart Island. Und dann die Westküste entlang wieder hinauf. Sein Rücken ist gebräunt, und winzige Schweißtropfen glitzern auf seiner Haut.
Er blickt auf und fragt sie, wo sie schon gewesen ist.
»Ach, nirgendwo eigentlich. Ich bin gerade erst angekommen.«
Er nickt und öffnet die Kühlbox, die er aus dem Wagen genommen hat.
Die Languste ist riesig und sieht aus wie ein großer Hummer, findet sie. Und sie lebt noch. Lachend hält er sie hoch. Sie fragt, ob sie seine Kamera benutzen dürfe, und er nickt und posiert fröhlich. Danach nimmt er ein Messer, legt die Languste auf ein Stück Treibholz und tötet sie mit einem raschen Stich in den Nacken. Sie weiß nicht genau, ob man bei Langusten überhaupt von Nacken sprechen kann. Das Tier zappelt ein paarmal, dann rührt es sich nicht mehr. Er schneidet es der Länge nach auf und legt die zwei Hälften auf den Grill. Während das Fleisch gart, bereitet er einen Salat zu, wickelt Brot in Aluminiumfolie und legt es ebenfalls auf den Rost. Die ganze Zeit über lehnt er ihre Hilfsangebote ab. Und die ganze Zeit über fotografiert sie. Das starke Zoomobjektiv führt sie nahe an sein Gesicht, während
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