Fremde am Meer
praktisch zahnlos. Dann stand sie abrupt auf und trat ans Fenster. Sie kehrte mir den Rücken zu.
»Ich tue, was ich kann«, sagte sie. »Es ist schwer.«
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach.
»Er ist nicht ganz richtig. Das war schon immer so. Kein Wunder, wenn man es bedenkt. Ist vielleicht Lizzies Schuld.« Sie zögerte einen Moment. »Na ja, ihre Schuld nicht direkt. Aber es ging ihr schlecht bei seiner Geburt. Kann an den Drogen gelegen haben. Ich weiß nicht. Jedenfalls stimmte was nicht mit ihm. Nichts stimmte.«
Sie zog an ihrer Zigarette, und Rauch waberte über ihren Kopf und fand seinen Weg durch das Fliegengitter vor dem offenen Fenster. Sie drehte sich um und sah mich an. Es kam mir vor, als wollte sie mit diesem Blick meine Fähigkeit einschätzen zu begreifen, was sie gleich sagen würde. Und meine Reaktion darauf. Ihr Gesicht war ein Schatten vor dem Fenster hinter ihr.
»Es ist nicht leicht, wissen Sie. Ich kann nicht ständig hier sein. Ich habe einen Job in der Stadt. Und dann sind da die Zwillinge, obwohl ich die zurzeit nicht bei mir haben kann. Nicht seit Joe zurück ist. Seit dem Unfall muss er hier bei mir wohnen.«
Ihr Tonfall hatte sich verändert. Ihre Worte flossen schneller, selbstbewusster. Ich hatte das Gefühl, dass das, was sie erzählte, eingeübt war. Eine einstudierte Geschichte – vielleicht nicht speziell für diese Gelegenheit, sondern zum allgemeineren Gebrauch. Und es war, als ob sie sie an mir testete. Ich fühlte mich entschieden unwohl.
»Joe ist auch nicht ganz richtig im Kopf. Das wird er nie sein. Er ist dreiundzwanzig, aber im Kopf ist er eher drei. Ein großer, starker, gefährlicher Dreiundzwanzigjähriger. Den werde ich nie mehr los.«
Sie hustete, ein tiefes Krächzen, das ihren dünnen Körper erschütterte.
Ich versuchte dahinterzukommen, wer Joe und Lizzie waren. Ich vermutete, Lizzie war die Tochter der Frau und Joe ihr Sohn. Die Zwillinge mussten ihre jüngeren Kinder sein. Und Mika ihr Enkel. Lizzies Sohn.
Sie stand auf und ging hinüber zur Spüle, wo sie die Zigarette ausdrückte. Als sie an den Tisch zurückkehrte und ihre Geschichte fortsetzte, kamen ihre Worte zögernd. Unsicher. Sie sprach leise und hielt ihren Blick auf den Tisch gerichtet.
»Lizzie war meine Älteste«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Mikas Mum, obwohl sie nichts getan hat, als ihn zur Welt zu bringen. Und dann ist sie gestorben. Offenbar hatte keiner eine Ahnung, wer Mikas Dad war. Na ja, die Umstände. Und so blieb er an mir hängen.«
Sie lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete mich mit merkwürdigem Gesichtsausdruck. Als wollte sie mich auf die Probe stellen. Dann fuhr sie fort, jetzt wieder selbstbewusster.
»Joe ist mein einziger Sohn. Nicht, dass er mir jemals viel Freude gemacht hätte. Und dann ist er vor zwei Jahren in den Graben gefahren. Die Ärzte dachten, er würde sterben. Das wäre vielleicht besser gewesen. Aber er starb nicht. Nichts als Ärger mit ihm vor dem Unfall, aber wenigstens war er damals noch klar im Kopf.«
Sie sah zu mir auf, und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, sie würde mich an sich heranlassen. Für den Bruchteil einer Sekunde kam es mir vor, als könnte ich einen Blick auf das innerste Wesen dieser Frau erhaschen. Und ich meinte, sie in einem anderen Licht zu sehen.
»Aber jetzt ist er gefährlich, wissen Sie. Das muss ich mir eingestehen. Es ist, als wäre etwas in ihm zerstört worden. Das bisschen Selbstbeherrschung, das er vorher hatte, ist verschwunden. Ich kann ihn nicht mit den anderen Kindern alleinlassen. Mit niemandem, genau genommen. Manchmal denke ich, es wäre besser, sie würden ihn einsperren. Aber sie sperren keinen ein, nur weil er gefährlich ist«, sagte sie. »Erst muss er was anstellen, stimmt’s? Jemanden ermorden. Oder vergewaltigen. Es nur vorzuhaben reicht nicht.«
Sie hielt inne und schaute auf ihre Hände, die gefaltet auf dem Tisch lagen. Jetzt streckte sie die Finger aus und umfasste die Tischkante. Ich bemerkte, dass ihre Nägel derb und lang und an der rechten Hand gelb gefärbt waren. Die Finger selbst waren knochig, die Gelenke geschwollen. Ihre Hände sahen hart aus.
»Es ist schrecklich, wenn eine Mutter so was sagt, das weiß ich. Aber ich kann ja nicht ständig auf ihn aufpassen.« Wieder sah sie mich an, und ihre außergewöhnlichen Augen waren weit aufgerissen und sehr blass. »Und wenn ich mein Bestes versuche, dann ist das doch wohl alles, was man von
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