Fremde am Meer
klein und sehr dünn. Von meiner Position aus konnte ich ihr Alter nicht schätzen, aber sie bewegte sich mit einem leichten Humpeln oder vielleicht auch mit übertriebener Vorsicht, als hätte sie Schmerzen. Sie rief die Hunde, und sie zogen sich winselnd und widerwillig zurück.
»Wie wär’s, wenn wir beide eine Spazierfahrt machen? Damit die Damen ein Weilchen unter sich bleiben?« George drehte sich zu Ika auf dem Rücksitz um.
Ika antwortete nicht, machte aber auch keine Anstalten auszusteigen. Ich deutete das als Zustimmung und George ebenso.
»Vielen Dank«, sagte ich zu ihm und stieg aus. Ich meinte es ernst. »Es dauert bestimmt nicht sehr lange.«
Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie lange es dauern oder was »es« eigentlich beinhalten würde. Ich fand nur, dass ich etwas sagen musste, was, nun ja, normal klang.
Als George und Ika abfuhren, hinterließen sie eine sich langsam auflösende Staubwolke. Die Frau blieb vor der Haustür im Schatten des vorspringenden Daches stehen. Sie hatte die Arme über der Brust verschränkt. Es war deutlich zu sehen, dass sie sich nicht auf unser Gespräch freute. Ebenso wenig wie ich.
Ich stellte mich vor, sie dagegen nannte keinen Namen.
Stattdessen fiel sie mir ungeduldig ins Wort. »Ich weiß, wer Sie sind.« Sie wedelte abfällig mit einer Hand.
Wieder verspürte ich den vertrauten Stich des Fremdseins. Die Leute kannten mich, ich sie nicht. Ich gehörte nicht zu ihnen.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte ich.
Sie legte den Kopf schief und sah mich kurz an, wie um mir klarzumachen, dass ich das nicht für selbstverständlich halten solle. Sie hatte merkwürdig blasse blaugrüne Augen, die sich von ihrer hellbraunen Haut abhoben. Dann drehte sie sich um und ging ins Haus. Ich zögerte einen Moment, ehe ich ihr folgte.
Das Haus roch nach nichts, was mich irgendwie überraschte. Es wirkte kahl und streng und zeigte keinerlei Anzeichen menschlichen Lebens. Der Flur war dunkel und vollkommen leer – er enthielt keine Möbel, keine Teppiche, nicht einmal Gerümpel. Keine Schuhe neben der Tür. Nichts. Nur ein sauberer, abgetretener Streifen Linoleum zog sich durch den schmalen Raum. Hinter einer der geschlossenen Türen hörte ich einen Fernseher oder ein Radio, aber es gab nichts, das auf die Anwesenheit eines weiteren Menschen hindeutete, und keine sonstigen Geräusche. Der für niemanden laufende Fernseher verstärkte das Gefühl von Verlorenheit, das mich schon bei unserer Ankunft beschlichen hatte.
Ich folgte der Frau in die Küche. Sie war sehr schlicht eingerichtet; eine Arbeitsplatte mit Spüle und Herd. Ein abgenutzter, zerkratzter Kühlschrank. Alles wirkte ungeheuer sauber, doch gerade diese Reinlichkeit war verstörend. Sie war aggressiv und hatte nichts mit Behaglichkeit oder Fürsorge zu tun. Die Frau deutete mit einem Nicken auf den einzigen Stuhl am Tisch, und ich nahm Platz. Sie holte sich einen zweiten Stuhl aus der Ecke und setzte sich mir gegenüber hin. Sie sagte nichts, sondern zog einen Tabaksbeutel hervor und rollte eine Zigarette, die sie sich anzündete.
Als sie sich zum Fenster wandte und Rauch ausatmete, sah ich ihr Gesicht zum ersten Mal richtig. Ungefähr in meinem Alter. Über fünfzig. Höchstwahrscheinlich zu alt, um Ikas Mutter zu sein. Sie hatte stark ausgeprägte, regelmäßige Züge und jene auffallend hellen blaugrünen Augen, aber jegliche Schönheit, die sie vielleicht einmal besessen haben mochte, war verschwunden.
»Ich bin wegen Mika hier«, sagte ich. »Ich habe ihn gestern im Meer gefunden.«
Sie inhalierte tief, ließ den Rauch durch ihren Mundwinkel entweichen und blieb stumm.
»Ich glaube, er hat versucht, sich umzubringen«, sagte ich, mich vorbeugend, um meinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Der Resopal-Tisch war kühl unter meinen Händen.
Sie schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf, ohne zu sprechen.
»Ich habe Mika ein bisschen besser kennen gelernt, seit wir uns letztes Jahr begegnet sind«, fuhr ich fort. »Er besucht mich meistens einmal pro Woche. Donnerstags. Ich weiß nicht, warum donnerstags, und habe ihn nie gefragt. Aber ich fühle mich sehr wohl in seiner Gesellschaft und habe ihn sehr gern.«
Ich hielt kurz inne, und sie öffnete die Augen, sagte jedoch immer noch nichts.
»Aber er hat mir nie von seinem Zuhause erzählt. Und ich habe ihn nie danach gefragt. Vielleicht hätte ich das tun sollen.«
Sie schaute mich an und saugte an ihrer Oberlippe. Ihr Unterkiefer war
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