Fremde am Meer
nasse Hand nach ihr aus.
»Ich hab dich lieb«, wispert sie und nimmt die Hand und steckt sich die rosigen kleinen Finger in den eigenen Mund.
9
Ika kam in Shorts und T-Shirt aus dem Bad. Ich hatte die Sachen am Abend zum Trocknen aufgehängt, aber keine Zeit gehabt, sie vorher zu waschen, sodass sie jetzt steif vor Salz waren und unbequem aussahen. Mit dem Rücken zum Klavier setzte er sich auf den Klavierhocker und starrte ins Leere.
»Ika, ich finde, wir sollten Folgendes tun«, sagte ich und versuchte, dabei zuversichtlich und hoffnungsvoll zu klingen.
»Ich finde, wir sollten Mr. Brendel von gegenüber anrufen und ihn bitten, uns zu dir nach Hause zu fahren. Er kennt deine Großmutter.« Ika schrak hoch und wandte mir sein Gesicht zu, wie immer aber, ohne mir in die Augen zu schauen. Er sagte nichts.
»Ich werde mit deiner Großmutter reden, und dann sehen wir, was zu tun ist«, erklärte ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich meinte. Was getan werden könnte, wenn überhaupt.
Ika drehte sich auf dem Hocker um und legte seine Hände auf die Tasten.
Ich hatte seine Musikalität zufällig entdeckt. Eines Donnerstags hatte ich mich zum Spielen hingesetzt, während ich auf Ika wartete. Die feuchte, salzige Luft in meinem Haus, das den Elementen stets mehr oder weniger ungeschützt ausgesetzt war, tat meinem Klavier nicht besonders gut. Doch es genügte mir, und ich hatte nie Zuhörer. Das dachte ich jedenfalls.
Ich hatte wieder angefangen, Bill Evans zu hören. Ich hatte erst vor kurzem gelernt, mir Stücke aus dem Internet herunterzuladen, und konnte nach langer Zeit wieder die Musik genießen, die ich früher geliebt hatte. Ich lauschte und versuchte, sie mitzuspielen. Die Echos der Vergangenheit, die sie heraufbeschwor, ignorierte ich allerdings.
An jenem Donnerstag hörte und spielte ich »Peace Piece«.
Ich war so vertieft darin, dass ich die Hände draußen vor dem Fenster nicht bemerkte. Plötzlich weckte eine winzige Bewegung meine Aufmerksamkeit. Ich versuchte, meine Finger auf den Tasten zu behalten und den Bann nicht zu brechen, während ich den Kopf wandte, um zu sehen, was da war. Ikas schmutzige kleine Hände waren so fest ans Fensterbrett geklammert, dass sich die Nägel weiß von der Haut abhoben. Von seinem Kopf sah ich nur den obersten Teil. Und jetzt fiel mir zum ersten Mal auf, dass die dritten und vierten Finger beider Hände zusammengewachsen waren. Ein dünnes, fast durchscheinendes Häutchen verband sie von der Wurzel bis zum ersten Gelenk. Ich hatte das zuvor nicht bemerkt, aber heute waren die Finger gespreizt, sodass es deutlich sichtbar wurde. Mein erster Eindruck war der von etwas sehr Feinem, Zartem. Wie die Flügel einer Eintagsfliege. Die Flossen eines Schleierschwanzes. Dann meldete sich meine professionelle Seite zu Wort, und ich fragte mich, ob das Phänomen medizinisch signifikant war. Ich zermarterte mir das Hirn nach Informationen. Mir kamen vage Erinnerungen an diverse Syndrome, aber ich ließ schließlich davon ab und konzentrierte mich wieder auf mein Spiel. Als ich innehielt und nachschaute, waren die Hände nicht mehr da.
»Komm rein«, rief ich. »Lass es uns zusammen versuchen.«
Einen Moment später erschien er und näherte sich zögernd dem Klavier.
Ich holte mir einen Stuhl und bedeutete ihm, sich auf den Hocker zu setzen, den ich dann ein bisschen höher stellte. Ich spürte, dass er mir nicht so nahe sein wollte, und rückte meinen Stuhl ein Stück weg, bevor ich darauf Platz nahm.
»Hast du schon mal ein Klavier gesehen?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
»Okay«, sagte ich. »Ich spiele dir ein paar Tonleitern vor. Das ist ein bisschen so, als ob man seine Finger einfach über die Tasten laufen lässt. So.«
Ika saß absolut still da und beobachtete meine Hände.
Als ich fertig war, legte er zögernd seine eigenen Hände auf die Tasten und spielte dieselben Tonleitern, ein wenig unsicher, aber er traf beinahe jedes Mal den richtigen Ton. Wenn er gelegentlich einen Fehler machte, korrigierte er sich sofort. Er spielte alles, was ich gespielt hatte.
»Du hast wirklich noch nie ein Klavier gesehen?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf, den Blick nach wie vor auf die Tasten gerichtet.
Ich war total fasziniert und so bewegt, dass ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich schluckte und lehnte mich zurück.
Und dann spielte er »Peace Piece«.
Natürlich hatte er es vorher nur in meiner Version gehört. Also folgte er meiner
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