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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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von hier, und arbeite nur gelegentlich, sodass ich meistens zu Hause bin. Ich bin …«
    »Ich weiß, wo Sie wohnen. Und wo Sie arbeiten.« Sie zog ungeduldig an ihrer Zigarette. »Aber warum wollen Sie den Jungen zu sich nehmen?«
    Ich mühte mich, Worte zu finden, die erklärten, was ich selbst nicht ganz verstand.
    »Ich habe ihn gern um mich. Er leistet mir Gesellschaft. Und es macht mir Spaß, ihn in Musik zu unterrichten.«
    »Was meinen Sie damit? Diese komischen Geräusche, die er macht?«
    »Ich weiß nicht, welche komischen Geräusche Sie meinen. Er spielt Klavier, wenn er bei mir ist, und ich halte ihn für begabt.«
    »Klavier?«, wiederholte sie ungläubig.
    »Ja«, sagte ich. »Ich glaube, er hat außergewöhnliches musikalisches Talent. Vielleicht wird er bald einen besseren Lehrer brauchen als mich, aber fürs Erste kann ich ihm noch Einiges beibringen.«
    Das darauf folgende Schweigen war wie eine Waage, die jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten konnte. Unsere Gedanken hatten sich anscheinend in entgegengesetzte Richtungen entwickelt – der Moment von Nähe und Verständnis war vorbei. Sie schaute mich weiterhin mit jenem Ausdruck äußersten Argwohns an.
    »Mika würde nur so lange bleiben, wie Sie wollen«, sagte ich, mich vorbeugend, und legte meine Ellbogen auf den Tisch. »Und natürlich nur, wenn er selbst es überhaupt will.«
    Wie aufs Stichwort ertönten von draußen Motorengeräusche und Hundegebell.
    Wir standen beide gleichzeitig auf, und sie ging vor mir her durch den dunklen Flur. An seinem Ende drehte sie sich, bevor sie die Hunde rief, zu mir um.
    »Ich bin Lola.« Sie streckte ihre Hand aus. »Falls Sie sich über den Namen wundern, er ist aus einem Film, der meinem Dad offenbar gut gefallen hat. Ein deutscher Film über eine Hure, soviel ich weiß. Typisch für ihn.«
    Sie hielt meine Hand fest und sah mich offen an. Ihr Griff war unangenehm hart und dauerte zu lange. Ich war erleichtert, als sie schließlich nickte und losließ.
    George und Ika näherten sich, und gemeinsam gingen wir wieder ins Haus. Wir standen schweigend in der Küche, bis George einen der Stühle heranzog und Lola bedeutete, sie möge sich setzen, was sie ohne ein Wort tat. Dann rückte er mir den anderen hin.
    »Ich warte draußen«, sagte er und ging.
    Ich nahm Platz.
    Ika stand an der Tür und sah keine von uns beiden an.
    »Komm her«, sagte Lola, und Ika machte ein paar Schritte vorwärts, um dann außer Reichweite stehen zu bleiben.
    »Die Frau hier sagt, du kannst bei ihr wohnen. Ich muss nämlich für ein Weilchen fort.« Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie keine Antwort erwartete, und es kam auch keine. Nichts wies darauf hin, dass er das Gesagte überhaupt verstanden hatte.
    Ich erhob mich und hockte mich vor ihn hin, wobei ich darauf achtete, genug Raum zwischen uns zu lassen.
    »Ika, ich habe deine Großmutter gefragt, ob es ihr recht ist, wenn du bei mir wohnst, während sie weg ist. Aber die Entscheidung liegt bei dir. Keiner wird dich dazu zwingen.«
    Er sagte nichts.
    »Es würde mich sehr freuen, wenn du kommst«, fügte ich hinzu. »Wir können Klavier spielen. Und ich kann dich morgens zur Schule bringen und nachmittags wieder abholen.«
    Es klang wie ein Flehen – wer brauchte hier wen?
    Lola und ich sahen ihn beide an. Ich vermutete, dass sie ebenso gespannt auf eine Reaktion wartete wie ich. Aber auch dieses Mal: nichts. Dann drehte er sich abrupt um und verließ die Küche.
    Ich kehrte zu meinem Stuhl zurück und setzte mich.
    Lola seufzte und rutschte auf ihrem Platz hin und her, als säße sie unbequem oder habe Schmerzen. Sie zuckte die Achseln und griff nach dem Tabaksbeutel.
    »Also, ich glaube nicht, dass wir viel aus ihm rauskriegen«, sagte sie.
    Plötzlich merkte ich, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte, dass er bei mir wohnen würde. In Gedanken hatte ich bereits angefangen, Unternehmungen zu planen. Gemeinsames Kochen. Musikhören und Klavierspielen. Spaziergänge. Gleichzeitig stellte ich mir den Prozess vor, den ich in Gang setzen würde, wenn ich die Misshandlungen meldete. Einen Prozess, der meiner Kontrolle entzogen wäre. Und die Sorge um sein Wohlergehen, die darauf folgen würde, die Frage, ob er bei mir bleiben oder ins Heim gesteckt werden würde. Mein Mut sank, als ich die Alternativen erwog.
    Als ich gerade aufstehen wollte, kehrte Ika zurück, einen zerbeulten Schuhkarton unter dem Arm.
    »Kommst du mit mir?«, fragte ich leise.
    Er blieb mit gesenktem

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