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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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mir verlangen kann, oder? Ich tue, was ich kann, und wie ich es kann. Ich erziehe ihn, wie ich erzogen wurde.«
    Was meinte sie? Und wer war »er«? Was sollte ich antworten? Oder tun? Ich hatte das Gefühl, dass mir etwas entgangen war. Dass es einen Aspekt ihrer Geschichte gab, den ich nicht begriffen hatte.
    Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme wieder über ihrer Brust.
    »Und wenn es manchmal zu viel ist, wer will darüber urteilen? Und wie?«
    Abrupt löste sich alles, was ich mir im Kopf zurechtgelegt hatte, in nichts auf. Die Kamera mit den Fotos von Ika blieb in meiner Handtasche. Ich hatte nur ein Ziel: ihn mit zu mir nach Hause zu nehmen.
    Mein Herz hämmerte so laut, dass ich Schwierigkeiten hatte zu hören, was sie sagte.
    »Ich versuche, den Jungen zur Schule zu bringen, bevor ich zur Arbeit gehe. Aber ich kann mir nie sicher sein, ob er nicht schwänzt. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Es ist, als ob er in seiner eigenen Welt lebt. Ich sage ihm immer, er soll in der Stadt auf mich warten, bis ich von der Arbeit komme, aber das tut er nie.«
    Sie befingerte den Tabaksbeutel auf dem Tisch, zog dann jedoch ihre Hände zurück und schlang sie ineinander.
    »Für wie alt halten Sie mich?«, fragte sie plötzlich mit einem schiefen Lächeln.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Ich bin zweiundvierzig.«
    Wieder sah sie mich mit jenem merkwürdig herausfordernden Gesichtsausdruck an. Aber die Wirkung war blass und schwach wie das ferne Echo einer Persönlichkeit, die es nicht mehr gab.
    »Ja, ich weiß, wie ich aussehe«, sagte sie und lächelte ein dünnes Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Aber es gibt jemanden, mit dem ich mal zusammen war. Joes Dad. Der ist jetzt oben im Norden und sagt, er würde mich zurücknehmen. Und Joe auch. Er meint, der könnte für ihn arbeiten. War früher selbst ein ziemlich wilder Junge. Hart, wissen Sie. Ich habe Narben – und Schmerzen –, die das beweisen. Aber eigentlich ist er kein schlechter Kerl. Ich glaube, er ist ruhiger geworden. Und ich glaube, er könnte mit Joe zurechtkommen. Er sagt, wenn es gut geht, kann ich auch die Zwillinge nachkommen lassen.«
    Sie öffnete den Beutel und drehte sich noch eine Zigarette.
    »Aber Mika will er nicht nehmen«, fuhr sie fort und warf mir einen Blick zu, während sie Rauch ausatmete. »Die Wahrheit ist, dass ihn niemand ausstehen kann. Keiner will ihn. Keiner, weil mit ihm was nicht stimmt. Und niemand will was Kaputtes.«
    Ich wusste immer noch, was ich sagen wollte.
    »Vielleicht geht es nicht gut, aber ich würde es weiß Gott gern ausprobieren. Hier hält mich nichts. Nur Mika, und wenn ich gehe, stecken sie ihn in eine Pflegefamilie. Aber wer würde ihn nehmen? Ich meine, schließlich gibt es genügend normale Kinder, von denen sie sich eins aussuchen können. Wer will ihn schon haben? Wo würde er landen?«
    Sie schwieg, und für einen Moment herrschte peinliche Stille.
    »Außerdem würde ich kein Kindergeld mehr kriegen.«
    Sie starrte ins Leere und wischte sich mit der Hand den Mund. Dann wandte sie sich zu mir, und plötzlich spürte ich ihre Verzweiflung. Spürte, wie der Schimmer einer Hoffnung auf eine eigene Zukunft mit der ungeheuren Last der Verantwortung kämpfte, die ihr übertragen worden war.
    Und dann hörte ich mich selbst sprechen.
    »Wenn Sie es ausprobieren wollen, könnte ich Mika eventuell zu mir nehmen. Jedenfalls eine Zeitlang. Bis Sie sehen, wie es läuft. Vielleicht beschließen Sie ja auch zurückzukommen. Dann wäre es für ihn eine Art Ferien. Nur vorübergehend. Und wir bräuchten die Behörden erst mal nicht einzuschalten. Sie könnten das Kindergeld behalten. Bis wir sehen, ob es klappt.«
    Wir saßen schweigend da und schauten einander an, beide gleichermaßen verblüfft, glaube ich. Es war nicht das, was ich mir zurechtgelegt hatte. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, was das gewesen war. Und sie hatte auch etwas anderes erwartet, das spürte ich.
    Die Frau mir gegenüber schien sich gerader aufgerichtet zu haben. Sie umfasste ihren rechten Ellbogen mit der linken Hand, führte die Zigarette zum Mund und atmete in einem langen, eleganten Schwall Rauch aus. Dann kniff sie die Augen zusammen und warf mir einen misstrauischen Blick zu.
    »Warum?«, fragte sie schließlich.
    »Warum was?«
    »Warum sollten Sie das tun?«
    »Na ja«, sagte ich und zögerte einen Moment, »wie ich schon sagte, ich habe ihn liebgewonnen. Ich lebe allein, nicht weit

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