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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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Intonation, meinem Tempo. Hier und da vertat er sich, und er spielte mit kindlicher Naivität, aber an manchen Stellen merkte ich, dass er mein Spiel korrigierte. Ich fragte mich, wie lange er wohl am Fensterbrett mein Spiel verfolgt hatte und wie oft schon. Ich war sprachlos vor Verblüffung.
    Als er fertig war, saßen wir einen Moment lang schweigend da. Ich hatte das Gefühl, dass sich unsere Beziehung verändert hatte. Dass wir uns plötzlich näher gekommen waren. Und dass mir eine neue Verantwortung übertragen worden war, die ich ohne zu zögern übernahm.
    Ich wusste, er würde irgendwann einen besseren Lehrer brauchen als mich, doch fürs Erste konnte ich ihm geben, was ich zu bieten hatte.
    Seit jenem ersten Tag hatte er sich ein seltsames Repertoire zugelegt. Ursprünglich glaubte ich, er besäße einfach ein unheimliches Talent fürs Auswendiglernen und Nachahmen. Doch seine Begabung war umfassender. Er erarbeitete sich seine eigenen Sounds und Interpretationen. Immer speziell und sehr packend. Und er hatte seinen eigenen Geschmack, unvorhersehbar und andersartig. Ich ließ ihn experimentieren, Umwege und Schlangenlinien verfolgen. Manchmal war es wie ein Abenteuerpfad. Wir wussten nie, zu welchen neuen musikalischen Erfahrungen uns ein Stück führen würde.
    Und hier saß er nun wieder am Klavier. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging.
    Um mir die Zeit zu verschaffen, mich zu sammeln, schlug ich vor, er möge ein bisschen spielen. Ich ging in die Küche, lehnte mich an die Theke und versuchte, zu einem Entschluss zu kommen. Plötzlich hörte ich ihn die Tasten anschlagen. Ich erkannte das Stück sofort, eines der ersten, die wir gemeinsam entdeckt hatten: Philip Glass’ »Mad Rush«. Ich ließ mich auf einen der Küchenstühle sinken und horchte. Er spielte langsam, langsamer, als ich es ihn je hatte spielen hören. Und nach einer Weile erkannte ich, dass er große Teile improvisierte. Das Tempo steigerte sich allmählich, und ich wurde wie unter Hypnose in den Bann der Musik gezogen. Es war fast eine Qual, ihr zu lauschen, und zugleich atemberaubend schön. Ich machte die Augen zu und kniff mich in den Nasenrücken, um meine Tränen zurückzudrängen.
    Als das Stück zu Ende war, trat ich wieder ins Zimmer. Ika saß noch auf dem Klavierhocker und schloss behutsam die Tastenklappe. Als er seine Hände darauflegte und sich vorbeugte, sah ich wieder die dunklen Flecken an seinem Hals.
    »Ich finde, wir sollten Folgendes tun«, sagte ich. »Ich werde Mr. Brendel anrufen. Du kennst ihn doch, oder? Den Farmer, der auf der anderen Straßenseite oben auf dem Hügel lebt?«
    Ika nickte, den Blick auf seine Hände gerichtet.
    »Ich werde ihn bitten, uns beide zu dir nach Hause zu fahren. Und dann rede ich mit deiner Großmutter, und wir entscheiden, was zu tun ist.«
    Keine Reaktion.
    »Ist das okay?«, fragte ich. Er hielt den Kopf gesenkt, aber nach einer Weile zuckte er die Achseln. Ich hätte ihn zu gern in den Arm genommen und getröstet und ihn glauben lassen, dass ich ihm helfen konnte. Und es mir selbst eingeredet. Doch mir fiel nichts anderes ein, als zu sagen: »Alles wird gut. Das verspreche ich dir.«
    Selbst in meinen eigenen Ohren klangen meine Worte hohl und überhaupt nicht tröstlich.
    Ich ging George anrufen.

10
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ich hatte eigentlich kaum einen Gedanken an Ikas Familie oder häusliches Leben verschwendet. Für mich war er wie ein Solitär ohne Verbindung zu irgendetwas oder irgendjemandem gewesen. Dummerweise hatte ich ihn nie befragt. Und er hatte mir von sich aus nichts erzählt.
    Das kleine Holzschindelhaus stand auf einem kahlen Grundstück, das mit vergilbtem Gras bewachsen war. Es sah verlassen aus; keine Lebenszeichen waren zu erkennen. Keine Wäsche an der Leine, die in der Brise langsam hin und her schwang. Keine Blumen. Keine Vorhänge. Die Fenster waren schwarze Löcher. Das Grundstück war nicht umzäunt, begrenzt nur durch einen flachen Graben entlang der Schotterstraße und eine niedrige, verdorrte Zypressenhecke auf einer Seite. Ich sah keine anderen Häuser und keine Tiere, also waren Zäune hier vielleicht überflüssig. George parkte auf dem gelben Gras vor dem Haus neben einem halben Dutzend Autowracks in verschiedenen Stadien des Verfalls. Zwei große Mischlingshunde kamen wild bellend auf uns zugerannt. Wir blieben bei geschlossenen Türen im Wagen sitzen und warteten ab.
    Die Frau, die schließlich aus der Tür trat, war

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