Fremde am Meer
stolperte ich über Hinweise, die mir ein wenig Aufschluss über ihr Bedürfnis gaben, sich als Mutter zu beweisen. Als meine Mutter. Aber da hatte es keine Bedeutung mehr. Oder vielleicht doch, in gewisser Weise. Vielleicht half es mir, in meiner Biografie einen Platz für meine Mutter zu finden.
Damals, als unglückliche, seekranke Sechsjährige, ergab ich mich in mein Schicksal und schloss die Tür hinter dem, was bis dahin mein Leben gewesen war. Ich sah meinen Großvater danach nur noch zwei Mal, und irgendwie war mir seine Welt inzwischen bereits entglitten. Außerdem brauchte ich all meine Energie, um in meiner neuen Umgebung zu überleben. In der Welt meiner Mutter. Ich konnte es mir einfach nicht erlauben, an meinen Erinnerungen festzuhalten.
Ich fragte mich, wie sich dieser große Schritt für Ika anfühlte. Er sollte wissen, dass die Tür zu seiner anderen Welt offen bleiben würde. Dass es ihm freistand, in beiden Welten zu leben, zu seinen eigenen Bedingungen.
Außerdem musste ich akzeptieren, dass dies ein vorläufiges Arrangement war. Ich hatte keine Garantie, dass ich ihn würde bei mir behalten können. Wir werden sehen, dachte ich. Abwarten.
Die Musik verstummte, und ich erhob mich und räumte den Tisch ab. Es war Zeit für unseren ersten richtigen gemeinsamen Spaziergang.
Es war der Tag, an dem wir mit unserem Projekt begannen.
»Ich finde, du solltest ein großes machen. Am Strand.« Ika stand auf der Terrasse, den Blick aufs Meer gerichtet.
»Was meinst du?«, fragte ich.
»Ein großes wie die, die du drinnen machst.«
»Ein Kunstwerk?«
Er nickte, drehte sich aber nicht um.
»Ein richtig großes. So groß, dass man es von oben sehen kann.«
Was meinte er?
»Aber wenn ich es so groß mache, kann ich es nicht überblicken, während ich daran arbeite«, sagte ich. »Dann weiß ich gar nicht, was ich tue. Schon bei denen, die ich hier mache, ist es manchmal schwer, es im Ganzen zu sehen und die Proportionen richtig hinzukriegen.«
»Ich kann es für dich überblicken«, sagte er.
Ich war mir nicht sicher, was er meinte, und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
»Okay«, sagte ich nach einem Moment des Zögerns. »Ich versuche es. Wenn du mir hilfst.«
Er sagte nichts.
»Wir werden eine Menge Material brauchen«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Gehen wir.«
Und so fingen wir an.
Ich verstand zunächst gar nicht so recht, was eigentlich unser Ziel war, aber irgendwie wuchs mir die Idee ans Herz. Wir begannen, Material zu sammeln, und wählten intuitiv nur sehr große oder massive Stücke. Steine, die so schwer waren, dass ich nur einen auf einmal tragen konnte. Große Stücke Treibholz. Federn banden wir zu langen Schleppen zusammen. So häuften wir mehrere Depots an, während wir noch nach dem richtigen Platz suchten.
Ein paar Wochen später bat Ika mich, ihm hinunter zum Strand zu folgen. Wir gingen weiter als sonst, bis zu einer Stelle, wo sich ein kleiner Fluss gabelte, bevor er ins Meer mündete. Das lange Sanddreieck zwischen den beiden Flussarmen war sehr fest und die Oberfläche glatt.
»Hier«, sagte er. Ich sah sofort, dass er Recht hatte. Der Platz war ideal, außerhalb der Reichweite der Flut. Unser Kunstwerk würde natürlich keine Ewigkeit überdauern, aber doch einige Zeit.
»Perfekt«, sagte ich. Und Ika schenkte mir sein seltenes halbes Lächeln, flüchtig und ohne Augenkontakt, fast, als machte er sich lustig über mich. Ich hatte es zu schätzen gelernt, dieses spöttische Lächeln, so kurz aufblitzend, dass es einem leicht entging.
»Lass uns die Stelle markieren«, sagte ich. Etwas weiter oben am Strand lagen einige Steine, und ich ging hin, holte einen und legte ihn auf die eine Seite der Sandfläche. Ika schüttelte den Kopf und deutete ein Stück weiter nach rechts.
»Hier«, sagte er. Gewissenhaft verrückte ich den Stein. Wir platzierten noch drei Steine auf dem sandigen Boden, und jedes Mal dirigierte Ika mich zu dem genauen Punkt. Als wir fertig waren, stellte er sich in die Mitte und begutachtete mit zusammengekniffenen Augen unser Werk. Ich stand neben ihm, und ein Gefühl der Vorfreude erfüllte mich. Langsam begannen Ideen Gestalt anzunehmen, und ich konnte mir fast schon vorstellen, was wir kreieren würden.
»Das wird wundervoll«, sagte ich und hätte ihn am liebsten umarmt.
Ika nickte.
»Ist es nicht wundervoll«, sagt Mutter, als sie die Tür öffnet. Marianne weiß instinktiv, dass eine Reaktion von ihr erwartet wird, aber sie ist
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