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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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sehr müde. Sehr erschöpft.
    »Das ist dein eigenes Zimmer, Marianne«, sagt Mutter. Aber sie hat doch schon ein Zimmer in Großvaters Haus, oder? Sie mag diesen großen Raum mit dem großen Bett und dem komischen Geruch nicht. Aber sie will nicht weinen, deshalb sagt sie nichts.
    Sie sind in einem Taxi hergekommen. Überall sind Häuser – riesige Häuser, so hoch, dass man den Himmel nicht sehen kann. Jede Menge Autos und sehr viele Menschen. Sie wohnen in einem großen Haus am Karlavägen. Nummer 63, im vierten Stock. Sie sind nicht die Treppe hinaufgestiegen, sondern haben den Fahrstuhl genommen. All diese Einzelheiten wird sie sich einprägen müssen. Doch momentan ist sie zu müde.
    Als sie gebadet und frische Sachen angezogen hat, nimmt Mutter sie an die Hand und führt sie in der Wohnung herum. Sie ist sehr groß, und die Decken sind sehr hoch. Allein möchte sie hier nicht sein. Als sie im Wohnzimmer am Fenster stehen bleiben, kann sie tief unten Autos sehen, die sich die Straße entlang bewegen. Wieder verspürt sie ein Stechen im Magen.
    »Hier ist unser Fernseher, Marianne«, sagt Mutter und zeigt auf einen Kasten, der in einem kleinen Raum nebenan auf einem Tisch in der Ecke steht. »Das wird dir gefallen.« Marianne begreift nicht, was sie meint, doch sie stellt keine Fragen.
    Schritte ertönen im Flur, und in der Tür taucht ein Mann auf.
    Er ist alt. Er sieht älter aus als Großvater, ist aber sehr gut gekleidet. Er hat keine Haare, und das Licht vom Kronleuchter spiegelt sich in seiner blassen Kopfhaut.
    »Aha, das muss Marianne sein«, sagt er und schaut mit verschränkten Armen auf sie herab.
    »Marianne, das ist Hans«, sagt ihre Mutter. Sie zögert ein wenig, als sei sie unsicher, wie sie fortfahren soll. Dann fügt sie hinzu: »Mein Mann.«
    Hans streckt die Hand aus, tritt aber nicht näher. Sie muss zu ihm gehen, um sie zu ergreifen. Es ist eine sehr kleine Hand, ganz anders als die Großvaters. Sie ist weich und glatt und hält ihre zu fest und zu lange. Da sie nicht weiß, wo sie hinschauen soll, starrt sie auf die beiden Hände. Hans’ Fingernägel sind sehr lang und glänzen im Licht der Lampe. Seine Hand sieht aus wie die einer Frau, findet sie. Sie kann sein Rasierwasser riechen. Und als er sich schließlich vorbeugt und den Mund aufmacht, nimmt sie noch einen anderen starken, süßlichen Geruch wahr. Sie würde sich gern abwenden, aber das darf sie nicht. Ihr Magen verkrampft sich, und sie hält die Luft an.
    »Hoffen wir, dass wir sehr glücklich miteinander werden«, sagt er. »Anneli hat so lange darauf gewartet.« Er sieht Mutter an, ohne zu lächeln. Mutter lächelt auch nicht.
    Später essen sie in der Küche Abendbrot.
    »Das verlangt nach Champagner!«, sagt Hans und öffnet eine große Flasche. Der Korken fliegt mit einem Knall heraus und schlägt an die Decke, wo er einen kleinen Fleck hinterlässt. Hans lacht.
    Es gibt seltsame Sachen, die sie noch nie gegessen hat. Krabbencocktail, erklärt Hans. Blassrosa Dinger, die nach Fisch riechen, in einer merkwürdigen rosa Sauce. Ihr Magen verknotet sich, und sie unterdrückt den Drang zu würgen. Sie stochert mit ihrer Gabel in der Glasschale herum, isst jedoch nichts. Hans und Mutter scheint das nicht aufzufallen. Jetzt lächeln sie und lächeln. Und sie trinken aus hohen, zerbrechlichen Gläsern – Hans mehr als Mutter.
    Mutter hat ihr aus einer anderen Flasche etwas in ein ebensolches Glas eingeschenkt. Als sie es in einem Balanceakt bis zu ihrem Mund führt und einen Schluck nimmt, scheint er ihr direkt in die Nase zu schießen. Sie müht sich damit ab, und Tränen steigen ihr in die Augen. Aber auch das bemerken sie nicht. Hans redet, und Mutter hört zu. Sie lächelt und nickt, und ihre Finger spielen mit einer Haarsträhne. In dem sanften Licht sieht sie sehr schön aus.
    »Gott, du bist wunderschön, Anneli«, sagt Hans und greift über den Tisch hinweg nach Mutters Hand. Mutter lächelt und lässt ihn ihre Hand streicheln, die flach auf dem Tisch liegt.
    »Dein Aussehen. Mein Talent und meine Beziehungen. Unschlagbar. Wir werden es weit bringen«, sagt Hans. »Die Welt wird uns zu Füßen liegen!«
    Dann wendet er sich Marianne zu.
    »Deine Mutter wird weltberühmt, Marianne! Lasst uns darauf trinken! Zum Wohl!« Und sie heben ihre Gläser, alle drei.
    Später sitzt Mutter auf Mariannes Bett und streicht ihr über die Haare.
    »Schlaf gut, Marianne. Ich weiß, alles ist neu für dich und ganz anders. Aber du wirst

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