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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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zurückzuweichen, ebenso wie der Rest ihrer Umgebung, bis sie sich ganz allein in einem weißen Raum befindet, dessen Zentrum dieses Ding in ihr ist. Sie würde ihre Mutter gern bitten, ihr zu helfen, doch es ist unmöglich zu sprechen, während sie versucht zurückzuhalten, was in ihr aufsteigt. Sie kann nicht einmal mehr auf dem Sitz hin und her rücken. Sie sieht Mutter an, aber die schaut nicht auf, scheint nichts zu bemerken. Es erfüllt jetzt ihren ganzen Körper, dieses grässliche Ding.
    Dann kann sie es nicht mehr zurückhalten. Ungestüm bricht es aus ihr hervor, spritzt über ihr Kleid und auch über das Kleid der Puppe. Sie beginnt zu weinen, zu schluchzen, als ihr Mund voll ist von dem sauren Erbrochenen. Sie würgt, und es schießt ihr in die Nase. Das tut weh. Mutter springt von ihrem Sitz auf, wischt sich Flecken von ihrem Rock. Sie ist weit weg, immer noch sehr klein. Sie blickt sich um, als hoffe sie auf Hilfe. Und die wird ihr zuteil. Eine Frau bleibt stehen, und die beiden beugen sich über sie, aber als sich ein weiterer Schwall aus ihrem Mund ergießt, zieht sich die Frau zurück. Beide treten ein paar Schritte zurück. Sie werden ihr nicht helfen können. Das kann niemand. Sie schluchzt und weint, sie schluckt brennende Galle, die ihr sofort wieder in den Mund steigt und noch mehr brennendes Würgen auslöst. Mehr Erbrechen.
    Erst als ihr Magen leer ist und das Würgen nichts mehr hervorbringt, gehen sie auf die Toilette, um sie zu säubern. Der Gestank von Erbrochenem folgt ihnen überall hin.
    »Hoffen wir, dass das alles war«, sagt Mutter und müht sich zu lächeln, während sie Mariannes nassen und zerknitterten Rock glättet. Er fühlt sich kalt an auf ihrer Haut. Sie friert, und ihre Zähne klappern.
    »Wir haben eine lange Reise vor uns, Marianne. Vielleicht kannst du jetzt ein bisschen schlafen. Lass uns zurückgehen und versuchen, einen guten Platz zu ergattern.« Mutter steht auf, um sich die Hände zu waschen.
    Marianne denkt an die lange Reise und bricht erneut in Tränen aus.
    Es lässt sich nicht ändern. Sie wird diese Reise machen müssen. Irgendwie muss es möglich sein. Und irgendwie wird sie lernen müssen, da drüben zu leben.
    Sie verlassen den Waschraum, und erst später, nachdem sie in Stockholm von Bord gegangen sind, entdeckt sie, dass sie ihre Puppe dort vergessen hat. Sie erzählt es ihrer Mutter nicht.
    Und sie weint nicht.

12
    Als ich die Augen öffnete, sah ich sofort, dass Ika nicht mehr in der Hängematte lag. Sie schwang leer in der Brise, und ich verspürte einen Anflug von Panik. Wo war er? Dann hörte ich die Musik. Er war drinnen und spielte Klavier. Ich lauschte, und die fließenden Klänge trösteten mich. Er würde nicht weglaufen. Nicht heute. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging, aber ich wusste, ich würde nur lernen, ihn zu verstehen, wenn ich ihm Zeit ließ – uns beiden.
    Als ich an meine Erinnerungen, an die Fahrt mit dem Schiff dachte, fiel mir die selbstverständliche Ichbezogenheit des Kindes auf. Ich hatte nur an mich selbst gedacht. An meine Verzweiflung. Meine tiefe Einsamkeit, meinen Kummer. Meine überwältigende Hoffnungslosigkeit. Und meine totale Schicksalsergebenheit. Meine Mutter spielte für mich kaum eine Rolle.
    Natürlich wusste ich, dass sie meine Mutter war. Aber das Wort »Mutter« bedeutete mir nichts. Warum hatte sie plötzlich beschlossen, mich zu sich zu holen? Ich erinnerte mich nicht daran, sie je vermisst, mich je nach ihr gesehnt zu haben. Sie hatte mich selten und immer nur kurz besucht und war deshalb nie Teil meines Lebens geworden, wie auch ich nicht Teil des ihren gewesen war. Ich wusste nur wenig. Mein Großvater sprach kaum über meine Mutter. Wenn er es tat, dann waren es knappe Informationen über ihr gegenwärtiges Tun und Treiben, die nichts darüber aussagten, wer sie war. Dass sie nächste Woche zu Besuch kommen würde. Dass sie eine neue Filmrolle ergattert hatte. Dass wir stolz sein sollten auf meine wunderschöne Mutter. Aber das alles lag in weiter Ferne für mich. Als ob sie eine andere Welt bewohnte, die keinerlei Bedeutung für uns oder unser Leben im Dorf hatte.
    Allerdings erkannte ich instinktiv, dass es ihr wichtig war, mich nach Stockholm mitzunehmen. Und in dem Blick, den sie Großvater über den Tisch hinweg zuwarf, als sie nach meiner Hand griff, hatte Triumph gelegen. Viel, viel später, als ich in das Dorf meines Großvaters auf einer der Inseln des Åland-Archipels zurückkehrte,

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