Fremde am Meer
dich daran gewöhnen. Das Leben hier in der Stadt ist so aufregend. Es gibt so viel zu unternehmen, zu sehen.«
Sie schaut Mutter ins Gesicht. Hinter ihren Lidern scheint es zu brennen, doch sie weiß nicht, was sie tun, was sie sagen soll. Also liegt sie reglos und still da, auf dem Rücken, die Hände unter dem kalten Laken. Mutter fährt mit der Hand über den Rand der Decke, beugt sich aber nicht herunter. Vielleicht weiß auch sie nicht, was sie tun soll. So verharren beide lange und schweigend.
»Ich habe mir das so lange gewünscht«, sagt Mutter schließlich. »Es war nur bisher einfach nicht möglich. Nicht, ehe ich Hans kennen lernte.« Mutter sieht nicht sie an, sondern in Richtung Fenster. Irgendwie fühlt es sich an, als spräche sie mit sich selbst. Dann dreht sie den Kopf und blickt auf Marianne herab. »Hans ist sehr freundlich. Du wirst ihn liebgewinnen.« Sie nickt langsam, wie um ihre Worte durchdringen zu lassen. Ob zu Marianne oder zu sich selbst, ist schwer zu sagen.
»Wir werden wie eine Familie sein, Marianne.«
»›Wie‹ eine Familie«, sagt sie.
13
Es ist seltsam, wie schnell wir in Gewohnheiten verfallen. Anfangen, Dinge als selbstverständlich hinzunehmen. Nach wenigen Wochen war es, als hätten wir schon immer zusammengelebt. Und würden es auch in Zukunft tun.
Wir richteten ihm eine Art Zimmer ein. Ich räumte eine der Kleiderkammern im Schlafzimmer aus, und dann verbrachten wir einen Tag damit, deren hintere Wand zu entfernen, damit sie zum Wohnzimmer hin offen war. Es war ein tiefer Raum, gedacht für zwei Rücken an Rücken stehende Schränke, glaube ich. Wenn ich die Tür zu meinem Schlafzimmer schloss, wurde daraus so etwas wie eine kleine Höhle, gerade breit genug für ein schmales Bett und einen Stuhl. Bevor wir sein Zimmer möblierten, fragte ich Ika, welche Farben er sich dafür wünschte. Er antwortete nicht gleich, und ich war mir nicht sicher, ob er mich verstanden hatte.
»Komm«, sagte ich und bedeutete ihm mit einem Nicken, mir in die Küche zu folgen. Zwischen den Dingen, die auf dem Regal in der Essnische gestapelt waren, zog ich eine Farbtabelle hervor, die ich vor einigen Monaten aus dem Laden für Malereibedarf in der Stadt mitgenommen hatte. Wir setzten uns an den Tisch, und ich schob ihm die Tabelle hin. Er wirkte nicht begeistert, aber so hatte ich ihn auch noch nie erlebt. Ich lernte allmählich, die subtilen Gefühlsäußerungen zu deuten, die er zeigte. Jetzt konnte ich keine erkennen. Er blätterte langsam um, anscheinend ohne viel Interesse.
»Die hier«, sagte er dann plötzlich und schob mir das Heftchen zurück.
Er hatte sich ein blasses Grün ausgesucht, wie das der Unterseite von Olivenblättern. Aus irgendeinem Grund überraschte mich seine Wahl, und freudige Erregung durchströmte mich.
»Das ist eine wunderhübsche Farbe, Ika«, sagte ich. »Damit wird dein Zimmer sehr schön aussehen.«
Am nächsten Tag gingen wir nach der Schule in das Geschäft und ließen uns die Farbe mischen. Außerdem kauften wir eine Bettdecke in einem dunkleren Grünton und einen kleinen gestreiften Vorleger. Ika bestand darauf, die Tüten die ganze Heimfahrt über auf dem Schoß zu halten.
Gestrichen und eingerichtet sah der kleine Schlafraum sehr einladend aus. Wir hängten ein weißes Laken an einem Draht über die Öffnung, und ich flocht aus Leinenstreifen eine Schlaufe und zeigte Ika, wie er den Vorhang damit raffen konnte.
Er stand schweigend da und betrachtete das Ergebnis.
»Glücklich?«, fragte ich.
Er antwortete nicht. Nach einer Weile trat er hinein und zog den Vorhang hinter sich zu. Ich hörte, wie er sich hinlegte, und ging in mein Schlafzimmer, wo ich an die geschlossene Tür der ehemaligen Kleiderkammer klopfte. Ich wartete. Irgendwann reagierte er mit einem leisen Pochen.
Ich lächelte und ging zu meinem Bett.
Mariannes Zimmer ist eine fremde Welt, in der sie zwar lebt, die sich aber nie ganz wie ihre eigene anfühlt. Im Laufe der Zeit wird ihr alles irgendwie vertraut, doch sie nimmt immer noch bewusst jedes Detail wahr. Die Gerüche. Wie sich das Parkett unter ihren nackten Füßen anfühlt. Wie sich die breite Marmorfensterbank anfühlt, wenn sie mit den Händen darüberstreicht – glatt und kalt. Sie legt oder setzt sich nicht gern auf die rosa Bettdecke. Wenn sie abends zurückgeschlagen ist, schlüpft sie ins Bett, das sich nach wie vor fremd anfühlt. Es spendet ihr keinen Trost, keine Wärme. Es ist, als wolle ihr Körper mit
Weitere Kostenlose Bücher