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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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all diesen Dingen nichts zu tun haben, sich nicht auf sie einlassen, als könne er hier nicht richtig atmen. Bei Großvater ist sie sich nie des speziellen Aussehens oder der Anmutung von Gegenständen bewusst gewesen. Sie war eins mit ihrer ganzen Umgebung. Aber diese Welt existiert nicht mehr. Jetzt hat sie nur noch das hier, wo ihr nichts gehört und sie nicht hingehört.
    In dieser stillen Welt gibt es keine Zeit. Es gibt keinen nächsten Tag. Nur ein endloses Jetzt. Sie lebt jetzt hier. Doch bisweilen hat sie beim Aufwachen einen Moment lang immer noch keine Ahnung, wo sie ist. Dann steigt aus ihrem Innern eine schwache Hoffnung in ihr auf. Und ehe sie sich dagegen wehren kann, steht das Bild von etwas anderem vor ihr. Die Erinnerung an einen anderen Ort, eine andere Zeit. Aber das geschieht immer seltener.
    Allmählich lernt sie, sich zurechtzufinden – in der Wohnung und in der näheren Umgebung. Sonntags gehen sie oft nach Djurgarden, Mutter, Hans und Marianne. Die besten Tage sind die regnerischen, denn dann besuchen sie manchmal das große Museum, das aussieht wie ein Märchenschloss. Ein Exponat gefällt ihr besonders gut. Es hat Fenster, durch die man in verschiedene Räume schauen kann, alle mit gedeckten Tischen. Man kann den Kopf an die Scheibe drücken und sich die Leute vorstellen, die dort essen werden. Das schönste Zimmer enthält einen großen, mit einem weißen Tuch gedeckten Tisch mit Kerzenhaltern und Blumenvasen. In der Mitte steht ein Schwan, die Flügel leicht gespreizt, als sei er eben gelandet. Bisweilen malt sie sich aus, wie fröhlich sie sein werden, die Menschen, die sich hier bald auf die Stühle setzen und die Servietten entfalten werden. Wie sie sich unterhalten und lachen, während sie leckere Gerichte verspeisen.
    Zu Hause haben sie selten Gäste. An den meisten Abenden isst Marianne allein am Küchentisch, denn Hans und Mutter essen auswärts, in einem Restaurant.
    »Zieh dir was Hübsches an, Anneli«, ruft Hans an diesen Tagen, wenn er zur Tür hereinkommt.
    Bevor sie gehen, sagt Mutter ihr gute Nacht. Sie ist wunderschön gekleidet, und ihr süßes, starkes Parfüm erfüllt das ganze Zimmer. Marianne kann es fast sehen. Manchmal streckt sie die Hände aus und versucht, es einzufangen, aber wenn sie sie dann auf ihr Gesicht legt, riecht sie nichts.
    An manchen Abenden bringen Mutter und Hans bei ihrer Heimkehr Gäste mit, doch diese Gäste kommen nicht, um zu essen. Es ist spät, und Marianne liegt seit Stunden im Bett, doch sie wacht immer auf, wenn die Wohnungstür aufgeht. Die Tür klingt anders, wenn sie Gäste mitbringen. Fröhlicher. Und Marianne lauscht, wenn sie Musik anstellen, reden, singen und lachen, hört Gläser klirren.
    Die Mädchen kommen und gehen. Die Babysitter. Einige kommen häufig genug, um reale Menschen zu werden. Annette zum Beispiel, mit der sie bis tief in die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzen und fernsehen darf. Annette möchte Filmstar werden, und Hans hat versprochen, ihr dabei zu helfen. Wenn sie Annette anschaut und die Augen ein bisschen zusammenkneift, ist Annette beinahe so schön wie Mutter. Aber wenn sie genau hinsieht, erkennt sie, dass ihre blonden Haare am Ansatz dunkel und ihre Zähne schief sind. Annette sagt, sie müsse abnehmen, doch sobald sich die Wohnungstür hinter Mutter und Hans schließt, geht sie in die Küche, um nachzusehen, was im Kühlschrank ist. Mutter stellt Annette immer eine Schale mit Nüssen und Süßigkeiten hin, und trotzdem durchstöbert Annette den Kühlschrank. Und wenn sie darin eine offene Flasche Wein findet, gießt sie sich ein Glas ein. Marianne muss versprechen, sie nicht zu verraten. Dann setzen sie sich beide vor den Fernseher. Marianne ist gar nicht so wild aufs Fernsehen, aber es gefällt ihr, neben Annette zu sitzen und sich wie eine Erwachsene zu fühlen.
    Eines Abends kommt Mutter nach ihrer Heimkehr wie üblich noch einmal in ihr Zimmer. Marianne liegt mit geschlossenen Augen da. Sie weiß nie genau, ob Mutter denkt, dass sie schläft, doch eigentlich ist es egal. Sie verhalten sich wie immer. Mutter schleicht auf bestrumpften Füßen an ihr Bett und flüstert ihr »Gute Nacht« zu. Sie wartet nie auf eine Antwort, sondern dreht sich um und geht so schnell, wie sie gekommen ist. Aber diesmal hält sie auf dem Weg hinaus inne. Sie bleibt mit der Hand auf der Klinke an der halb offenen Tür stehen. Im Zimmer ist es dunkel, der Korridor ist jedoch in warmes, gelbes Licht getaucht. Es ist

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