Fremde am Meer
Moment lang an. Ich achtete darauf, dass ich selbst nur aufs Meer schaute. Obwohl er nicht lächelte, wirkte es so auf mich, als er kurz nickte und die Augen zumachte.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schloss ebenfalls die Augen.
Mutter hält ihre Hand, aber es fühlt sich nicht so an, als ob sie ihr Halt gibt. Mutters Hand, die kühl und trocken ist, scheint sie kaum zu berühren und ihr überhaupt nichts zu geben. Ab und zu lockert sich ihr Griff, dann verstärkt er sich wieder, als müsste sie daran erinnert werden, was sie tut.
In der anderen Hand hat Marianne ihre kleine karierte Tasche, die ihre kostbarsten Habseligkeiten enthält. Mutter trägt einen Koffer. Marianne braucht keinen eigenen, weil ihre wenigen Sachen in Mutters Koffer passen. Mutter hat ihr erklärt, sie werde neue Kleider benötigen, wenn sie in Stockholm sind. Stadtkleider. Sie fragt sich, wie die wohl aussehen werden, doch es muntert sie nicht auf, an sie zu denken.
Sie ist sehr müde. Im Bus ist ihr übel geworden, und sie hat einen sauren Geschmack im Mund. Ihr Magen fühlt sich an wie ein großes Loch, aber sie hat keinen Hunger. Ihr ist nur zum Weinen zumute.
Sie gehen unter einem Baldachin aus grünen Blättern. Zu beiden Seiten des Fußweges stehen Zweierreihen hoher Bäume, deren Äste sich über ihren Köpfen treffen und das Sonnenlicht von ihnen fernhalten. Es ist kühl hier im grünen Schatten, doch sie schwitzt noch von der Busfahrt. Ihr Rock klebt an ihren Oberschenkeln, und sie versucht, unauffällig an ihrer Unterwäsche zu zupfen. Ihre Puppe, die wie sie selbst für die Reise in ihrem schönsten geblümten Kleid mit Smokstickerei auf der Brust herausgeputzt ist, hat sie sich unter den Arm geklemmt. Mutter stöckelt mit ihren hohen Absätzen durch den Kies und verliert hin und wieder ein bisschen das Gleichgewicht. Dann verstärkt sich der Griff ihrer Hand, und es fühlt sich an, als ob Marianne Mutter stützt.
»Ist nicht mehr weit, Marianne«, sagt Mutter, und man kann das Lächeln in ihrer Stimme hören. Marianne mag dieses neue Lächeln nicht. Sie möchte, dass Mutter stehen bleibt, sich hinhockt und ihr ins Gesicht schaut. Und dass sie sagt, sie könnten umkehren und wieder in den Bus steigen. Dass sie diese Reise übers Meer nicht machen müsse.
Aber das tut Mutter nicht.
»Das wird aufregend. Warte nur ab!«, sagt sie stattdessen. »Es ist ein so riesiges Schiff, wie du noch nie eins gesehen hast. Du wirst nicht einmal merken, dass du auf dem Wasser bist, so groß ist es.«
Und das mit der Größe stimmt wirklich. Als sie den Hang zum Hafen hinunterlaufen, erblickt sie es. Es ist tatsächlich größer als alles, was sie bisher gesehen hat. Größer als jedes Haus, sogar größer als die Kirche daheim. Wenn sie mit Großvater in seinem kleinen Ruderboot unterwegs war, sah sie draußen auf dem Meer manchmal große Schiffe. Aber die erschienen ihr wie etwas, das weit weg in einer anderen Welt lebte. Stille, langsam schwimmende Körper am Horizont, fremd und fern wie der Mond und die Sterne. Großvater zeigte ihr Bilder aus seiner Weltumseglerzeit, doch das waren nie Bilder von dem Schiff selbst, sondern von gebräunten, lächelnden Männern an einem Ort, der überall hätte sein können. So etwas wie das hier hat sie noch nie gesehen.
Aber es stimmt nicht, dass sie nicht merkt, dass sie auf dem Wasser ist. Sobald sie ausgelaufen sind, ist es, als gebe es nichts mehr, an dem sie sich festhalten kann. Die Welt ist plötzlich nachgiebig geworden, hat ihre Struktur verloren. Alles erscheint ihr unsicher, schwankend. Sie hat ein komisches Gefühl im Magen, als ob er schrumpft, bis er eine brennende Kugel ist. Sie atmet kurz und rasch und versucht, das Gefühl zu ignorieren. Doch es ist, als ob etwas aus ihrem brennend heißen Magen aufsteigt. Es breitet sich aus und wächst, und alles um sie herum verblasst. Sie sitzt absolut still auf dem Sessel, klammert sich an ihre Puppe und atmet so schnell wie möglich. Wenn sie sich nur im Geringsten bewegt, wird das schreckliche Ding in ihr entwischen.
Mutter liest ein Buch. Sie hat die Beine übereinander geschlagen, und ihr weiter Rock bauscht sich über den Sitz. Ihr Fuß mit dem hochhackigen roten Schuh wippt rhythmisch. Marianne will nicht hinsehen, aber sie kann nicht anders. Sie will, dass der Fuß sich nicht mehr rührt. Sie will, dass sich nichts mehr rührt. Und sie will, dass alles verschwindet. Und das scheint auch zu geschehen. Mutter scheint
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