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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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sagte er. »Lola ist eine zwanghafte Lügnerin. Sie kann nicht zwischen Wahrheit und Lügen unterscheiden. Und wenn man das nicht kann, dann weiß man nicht, was richtig und was falsch ist. Und daraus folgt, dass man auch keine Gesetze einhalten kann, geschriebene oder ungeschriebene.«
    Wieder sah er mich an.
    »Ich versichere Ihnen, was sie Ihnen auch erzählt haben mag, nichts davon stimmt. Jedenfalls nichts Wesentliches.«
    Ich war immer noch im Zweifel. Es hatte während meines Gesprächs mit Lola Momente gegeben, in denen ich gedacht hatte, wir verstünden einander. In denen ich mich in sie hatte einfühlen können, sogar Zuneigung zu dieser verletzlichen Frau verspürt hatte. Jetzt war es an mir, den Kopf zu schütteln. Ich fasste es einfach nicht.
    Ich berichtete George, was Lola gesagt hatte.
    Als ich fertig war, schüttelte er erneut den Kopf und schenkte mir ein schiefes kleines Lächeln.
    »Lola hatte tatsächlich Zwillinge, Mädchen, aber die wurden schon als Babys in Pflege gegeben und später adoptiert. Lola hat sie seitdem nicht mehr gesehen. Sie sind inzwischen erwachsen. Ihr Sohn ist vor drei Jahren bei einem Autounfall umgekommen. Und ihre jüngste Tochter, Lizzie, ist kurz nach Ikas Geburt an einer Überdosis gestorben. Also, da haben Sie’s …«, schloss George mit einem Seufzer.
    Ich war sprachlos. Immer wieder sah ich Lolas Hände auf dem Tisch vor mir. Harte Hände, hatte ich gedacht.
    »Jetzt gibt es also nur noch den Enkel. Und der lebt nur deshalb immer noch bei ihr, weil auch ihn niemand beachtet. Er ist ein Außenstehender, wie seine Großmutter. Aber wenn Sie den richtigen Leuten die richtigen Fragen stellen – sie wissen, was vor sich geht. Sie haben gesehen, wie sie sich benimmt, gesehen, dass er grün und blau geprügelt wird. Und es auch wieder nicht gesehen, wenn Sie wissen, was ich meine. Er und seine Großmutter gelten ihnen als Einheit, und in ihre Solidarität und Loyalität sind beide nicht eingeschlossen.«
    Ich war den Tränen nahe.
    »Ich fand nur, Sie sollten vor Ihrem morgigen Treffen die Fakten kennen. Das Jugendamt wird Ihnen nichts sagen können, auch wenn die Leute dort Bescheid wissen. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie das tun.«
    »Vielen Dank«, sagte ich. »Ich weiß nicht genau, was ich mit diesen Informationen anfangen soll. Inwieweit sie die Situation verändern, wenn überhaupt.«
    »Das tun sie, glaube ich, aber es wird trotzdem ein langer Weg. Alle Vorschriften müssen befolgt werden. Und das kann dauern.«
    »Ich muss mit Ika reden«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich sollte ich warten, bis ich mehr weiß. Und ich kann hier nicht weg, bis ich sicher bin, dass Lola nicht mehr kommt.«
    George nickte.
    »Ich behalte ihn über Nacht bei mir. Er ist in der kleinen Laube hinter meinem Haus. Ich glaube, er ist gestern Abend gekommen. Heute Morgen nach Ihrem Anruf habe ich ihn dort gefunden. Aber das ist keine langfristige Lösung. Nicht mal eine kurzfristige. Das Jugendamt wird entscheiden, wo er wohnt, während sie die Situation überprüfen. Aber er kann bei mir bleiben bis nach Ihrem Treffen. Dann sehen wir weiter.«
    Nachdem George gegangen war, machte ich einen kurzen Spaziergang am Strand, bei dem ich mein Haus die ganze Zeit über im Auge behielt. Ich wartete bis zum Abend. Als die Sonne unterging und der Wind sich legte, wurde mir klar, dass sie vermutlich nicht mehr kommen würde. In eine Decke gehüllt, setzte ich mich auf die Terrasse und schaute in die Dämmerung.
    Natürlich dachte ich an Ika. Und ich dachte an die absolute Verwundbarkeit von Kindern. Besonders von kleinen Kindern und solchen, denen das Sicherheitsnetz fehlt, das Familie und Freunde darstellen sollten.
    Ich dachte an meinen Bruder. Und ich dachte an mich selbst.
    Es ist Sommer, und da gibt es Wochen, in denen sie für sich sind. Das sind gute Wochen. Manchmal gehen sie spazieren, Mutter, Marianne und Daniel, gelegentlich bis nach Gärdet, wo Marianne und Daniel auf den Feldern herumrennen und über die Wiesen tollen können. Diese Tage sind die allerbesten.
    Sie weiß nicht, wo Hans ist, und fragt auch nicht.
    Aber der Sommer endet, und die Schule fängt wieder an. Und auch die guten Tage enden. Hans ist zurück und verbringt bisweilen den ganzen Tag zu Hause. Marianne kann nicht in die Schule gehen. Sie kann Daniel nicht allein lassen. Sie sagt, sie habe Bauchschmerzen – und es stimmt. Der Magen tut ihr weh, und ihr ist übel. Manchmal geht sie morgens hin, läuft aber mittags

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