Fremde am Meer
liegt einfach bäuchlings auf ihren ausgestreckten Beinen. Sein Geschrei ist zu einem Wimmern verklungen, als hätte er schon sehr lange geweint. Und auch Mutter weint.
Auf Daniels Hemdchen und Mutters Morgenmantel ist Blut.
»Ich habe ihn nur eine Minute allein gelassen«, schluchzt Mutter. »Nur eine Minute.«
Marianne sinkt auf die Knie und nimmt Daniel auf den Arm. Sein Gesicht ist ganz nass, und er jammert und hickst in ihre Brust.
»Er war auf dem Boden …«, sagt Mutter und sieht Marianne an. »Ich bin bloß ins Bad gegangen.« Sie breitet die Arme, als wollte sie, dass Marianne sie umarmte.
Aber jetzt weint auch Marianne, und sie umklammert Daniel, so fest sie kann.
»Er ist auf den Schürhakenständer gefallen und hat sich verletzt.«
Marianne schließt die Augen. Sie kann Mutter nicht ansehen.
»Ich habe die Schürhaken weggestellt, damit er sich nicht wehtut«, sagt Mutter, »aber der Ständer war so schwer. Ich dachte nicht, dass er Schaden anrichten könnte.«
Marianne setzt Daniel sanft ab, dann steht sie auf und nimmt ihn wieder auf den Arm. Als sie sich zum Gehen wendet, lässt Mutter sich, die Hände zwischen den Knien, zur Seite sinken und weint noch lauter. Marianne durchquert den Raum.
Sie geht ins Kinderzimmer und legt Daniel in sein Bettchen. Dann steigt sie auch hinein und schmiegt sich an seinen Rücken, und jetzt sieht sie die Wunde. Es ist ein Schnitt, der sich vom Schulterblatt bis in die Achselhöhle zieht. Blut sickert daraus hervor. Aber Daniel hat sich beruhigt. Gelegentlich schüttelt ihn noch ein Schluckauf.
Langsam beugt sich Marianne vor und legt ihre Lippen auf die Wunde. Sie streckt die Zunge aus und beginnt zu lecken. Ihr Mund schmeckt nach Salz und Metall. Daniel schläft beinahe sofort ein. Seine Hose ist nass, der Geruch jedoch warm und tröstlich. Sie zieht die Decke über sie beide und leckt weiter an der Wunde, bis sie sauber ist und kein Blut mehr kommt.
Dann schläft auch sie ein.
Die Wunde heilt, hinterlässt aber eine sichelförmige rosa Narbe. Jeden Abend, wenn sie im Bett sind, streicht Marianne mit den Fingern darüber.
Jetzt, wo Daniel groß genug ist, sich allein in der Wohnung umher zu bewegen, fällt es ihr noch schwerer, zur Schule zu gehen. Überall lauern Gefahren. Neue Gefahren.
Manchmal kommt Hans nach Hause, bevor sie schlafen. Er knallt die Tür zu und stapft den Flur entlang. Das Kinderzimmer betritt er nie. Meistens geht er direkt ins Wohnzimmer und schenkt sich einen Drink ein. Dann stellt er den Fernseher an. Und oft geht er später noch einmal aus.
Gäste haben sie nicht mehr. Und Mutter verlässt die Wohnung nur noch sehr selten.
Hans sagt Mutter nie, dass sie schön ist. Er sagt, sie sei scheißhässlich.
»Reiß dich zusammen, verdammt noch mal«, sagt er.
Mutter sagt nichts. Sie weint auch nicht. Sie entfernt sich bloß langsam. Manchmal fragt man sich, ob sie eigentlich hört, was Hans sagt, ob sie überhaupt wach ist. Ihre Augen sind offen, aber es wirkt nicht so, als ob sie richtig sieht.
Meistens schlafen sie schon, wenn Hans nach Hause kommt. Dann macht er noch mehr Krach, so fühlt es sich jedenfalls an. Marianne weiß nie, wann er kommt. Bisweilen kommt er gar nicht nach Hause. Aber man kann nie wissen, deshalb schläft Marianne mit offenen Ohren. Das klappt. Sie schlägt die Augen auf, sobald sie den Fahrstuhl hört. Wenn es spät nachts ist, kann das nur er sein. Die Aufzugtür klappert und knallt, wenn sie erst auf- und dann zugeht. Dann öffnet sich mit einem weiteren Knall die Wohnungstür, und Hans stolpert fluchend herein. Manchmal rutscht er aus und fällt hin. Ein oder zwei Mal hat er sich im Flur erbrochen. Aber das macht nichts. Nicht, solange es da draußen im Korridor passiert. Oder im Wohnzimmer. Doch man kann nie sicher sein, wo er hingehen oder was passieren wird. Also muss man auf der Hut sein.
Gewöhnlich läuft alles gut. Irgendwann wird es still. Aber hin und wieder geht Hans ins Schlafzimmer und weckt Mutter. Marianne mag nicht hören, wie er Mutter anschreit. Und sie mag die Geräusche nicht hören, die Mutter von sich gibt. Deshalb zieht sie sich die Decke über den Kopf und hält sich die Ohren zu. Manchmal dauert es lange, bis es ein Ende hat. Wenn alles ruhig ist, kann Marianne die Decke wieder vom Gesicht nehmen. Dann ist sie verschwitzt und muss pinkeln. Doch sie steht nicht auf. Die Stille ist zu kostbar. Man darf sie nicht unterbrechen.
Aber wenn sie auch nur den leisesten Ton aus dem
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