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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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Küche. Das einzige Geräusch war das Ticken einer Uhr an der Wand. Ich hatte nichts zu sagen.
    Ich sah die Frau aufmerksamer an, erkannte sie jedoch nicht wieder. In den Erinnerungen an meine frühe Kindheit existierten nur zwei Menschen: mein Großvater und ich. Es gab keine Nachbarn, keine weiteren Angehörigen. Nur uns beide.
    »Dein Großvater hatte ein trauriges Leben«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, wir haben alle gedacht, dass er an gebrochenem Herzen gestorben ist.«
    Sie beugte sich vor und nahm meine Hand.
    »Er war ein guter Mann, dein Großvater. Ich möchte, dass du das weißt.«
    Irgendetwas tief in mir regte sich, und ich zog meine Hand langsam zurück. Die Frau ließ ihre Hand in den Schoß sinken.
    »Er hat sie vergöttert, weißt du. Seine wunderschöne finnische Frau. Wer hätte wissen können, dass diese Schönheit so viel Hässliches barg? Aber sie war ein schlechter Mensch. Üble Nachrede gehört sich nicht, aber über manche Leute lässt sich einfach nichts Gutes sagen. Sie hatte keinen Anstand. Gar keinen. Es gibt einen Namen für Frauen wie sie, aber damit beschmutze ich meinen Mund nicht.«
    Die alte Frau sah zu Boden, als ob sie ihre Worte bedauerte.
    »Gott sei Dank, die ist er los, das haben wir alle gesagt, als sie mit dem Baby verschwand. Es war natürlich nicht von ihm, aber dein Großvater hätte sie und das Kind trotzdem gern bei sich behalten. Er war am Boden zerstört. Aber er hatte für die Kleine zu sorgen, für deine Mutter, und musste sich zusammenreißen. Um ihretwillen. Sie war ebenso schön wie ihre Mutter. Oder noch schöner. Eine echte Augenweide mit ihren blonden Haaren und den großen blauen Augen.«
    Sie schaute mich an, und in ihrem Blick lagen Güte und Mitgefühl. Das hier war kein müßiges Geschwätz. Sie wollte mir wirklich etwas mitteilen. Ich lauschte. Doch ich merkte, dass die Melodie ihrer Worte genauso stark auf mich wirkte wie ihr Inhalt. In ihrem regionalen Dialekt klangen sie weich und nachdenklich und erreichten mich auf eine Weise, wie es die Geschichte selbst nicht tat. Es war, als hätte die Sprache einen Riss in der emotionalen Abwehr gefunden, die ich aufgebaut hatte. Sie drang zu mir durch und berührte mich schmerzlich. Ich sah meinen Mann an, obwohl ich wusste, dass von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Er konnte nur dasitzen und höflich interessiert dreinschauen. Doch durch seine bloße Anwesenheit war er mir trotzdem eine Stütze, eine Erinnerung daran, wer ich war.
    »Er ist wirklich an gebrochenem Herzen gestorben, das war uns allen klar«, fuhr sie fort. »Dreifach gebrochen gewissermaßen. Zuerst die Frau. Dann die Tochter. Und dann die Enkelin. Du.« Sie blickte mich an. »Er hat euch alle drei verloren.«
    Ich hatte nichts zu sagen und traute meiner Stimme sowieso nicht. Daher trank ich einfach von dem heißen, starken Kaffee und versuchte, die Gefühle zu unterdrücken, die in einem Schwall hervorzubrechen drohten.
    »Deine Mutter war kein schlechter Mensch. Sie war bloß … na ja, bloß zu schön, nehme ich an. Sie wollte zum Film. Und was sie sich wünschte, das gab er ihr. Er konnte ihr nichts abschlagen. Sie durfte im Ausland auf die Schauspielschule gehen. Und als sie schwanger zurückkehrte, akzeptierte er auch das. Nein, er akzeptierte es nicht nur – er liebte das Kind schon vor seiner Geburt, glaube ich. Und er dachte wohl, dass sie sich hier niederlassen würde. Dass sie endgültig heimgekehrt war. Das haben wir alle gedacht. Sie hätte hier ein gutes Leben haben, sogar einen Ehemann finden können, obwohl sie das Kind hatte. Aber sie hat etwas von der Rastlosigkeit ihrer Mutter in sich gehabt. Dieser Ort war einfach nichts für sie. Er hätte wissen müssen, dass es nicht klappen würde, doch als sie dann nach Stockholm ging und das Baby hierließ, ist er ein alter Mann geworden. Von da an lebte er nur noch für die Kleine.«
    Sie sah mich an und nickte.
    »Er lebte nur für dich, so war das.« Sie nickte erneut, als spräche sie ebenso sehr zu sich selbst wie zu mir. »Aber sogar das bisschen Leben sollte ihm genommen werden.«
    Ich bemerkte, dass mein Mann anfing, ein wenig unruhig zu werden, und versuchte, ihm zu verstehen zu geben, dass es beinahe überstanden war. Die Worte der Frau übersetzte ich allerdings nicht.
    »Ich habe mich oft gefragt, was aus dir geworden ist, Marianne«, sagte sie und tätschelte meine Hand. »So ein liebes kleines Mädchen, fanden wir alle. Du hast deinen Großvater vergöttert.

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