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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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Kinderzimmer hört, springt sie aus dem Bett und läuft hin, so schnell sie kann. Sie weiß, wie sie Daniel trösten kann, wenn er schlecht träumt. Sie steigt zu ihm in sein Bettchen und schmiegt sich eng an ihn. Sie drückt sich an ihn und steckt ihm einen Finger in den Mund. Dann streckt er eine Hand aus und spielt sanft mit ihren Haaren, bis er wieder einschläft. Manchmal bleibt Marianne bis zum Morgen.
    Doch dann ändern sich die Dinge. Es ist, als hätte eine neue Zeit angefangen. Eine schlimmere Zeit.
    Wenn Hans zu Hause ist, gibt es fast nie Ruhe. Bisweilen kommt die Polizei, weil sich Nachbarn über den Lärm beschweren. Die Polizisten gehen dann wieder, nachdem sie mit Mutter und Hans gesprochen haben. Mit Marianne sprechen sie nie.
    Eines späten Abends schreit Hans so laut, dass es durch die ganze Wohnung, vielleicht durch das ganze Gebäude hallt.
    »Du verdammte Hure!«, brüllt er. »Du hast alles ruiniert!«
    Das hat Marianne schon oft gehört. Aber diesmal sagt er noch, gar nicht laut und sehr langsam, mit einer Pause zwischen den einzelnen Wörtern: »Ich. Bringe. Dich. Um.«
    Dann ist es einen Moment lang still.
    Marianne drückt Daniel fest an sich, sodass sein warmer Körper alles ist, was sie riechen kann.
    Und dann, ziemlich leise, doch umso beängstigender: »Ich bringe euch beide um, dich und den verdammten Bastard.«
    Danach kein Ton mehr. Es ist so still, dass es sich anfühlt, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen.
    Von nun an schläft Marianne jede Nacht im Kinderzimmer. Sie wartet, bis sie weiß, dass Mutter zu Bett gegangen ist. Das ist immer spät, denn an den meisten Abenden bleibt Mutter lange in der Küche. Sie tut gar nichts, sitzt einfach da. Manchmal vergisst sie, Licht zu machen, wenn es dunkel wird. Doch irgendwann geht sie ins Bett, und Marianne schleicht sich ins Kinderzimmer und legt sich zu Daniel.
    Bisweilen wacht sie auf, weil sich eins ihrer Beine zwischen den Gitterstäben verklemmt. Oder weil Daniel sich bewegt. Aber sie vergisst nie, die Ohren offen zu halten. Auch nicht im Schlaf.
    In der Schule ist sie müde.
    Doch Schule bedeutet nichts. Sie gehört nicht dorthin.
    Hier, zu Hause, wird sie gebraucht.

17
    Als ich aufwachte, dauerte es einen Moment, bis ich wusste, wo ich mich befand. Aber dann sah ich das Licht draußen vorm Fenster und erkannte schnell, dass es immer noch früher Morgen war. Als ich aufgehört hatte, regelmäßig zu arbeiten, war es gewesen, als würden Daten, Wochentage und sogar die Jahreszahl irrelevant. Es gab nicht mehr vieles, das von mir verlangte, mit der Zeit Schritt zu halten. Erst als Ika bei mir einzog, fing ich wieder an, meine Armbanduhr zu benutzen. Davor hatte es Tage gegeben, an denen ich es mir gestattet hatte, mich nur am Licht zu orientieren. Ich wurde Expertin darin, die Uhrzeit durch einen raschen Blick auf den Himmel richtig zu schätzen. Als ich jetzt auf meine Uhr schaute, sah ich, dass ich weniger als eine Stunde gedöst hatte. Ich fühlte mich steif und wund, als ich aufstand – mein Körper spiegelte meinen Geisteszustand wider. Schlapp und aus den Fugen geraten.
    Es konnte noch Stunden dauern, bis Lola auftauchte, und ich musste im Haus bleiben.
    Ich war unruhig, konnte jedoch nichts tun als warten. Ich holte mein Buch von meinem Nachttisch, aber es war eins, das mich auch vorher nicht so recht in seinen Bann gezogen hatte, und das tat es jetzt schon gar nicht. Ich setzte mich an den Computer und checkte meine Mails. Das ging schnell – meine Korrespondenz war überschaubar. Um irgendetwas Sinnvolles zu tun, beschloss ich aufzuschreiben, was ich der Person, die ich am nächsten Tag treffen würde, mitteilen musste. Schon bald nahm mich diese Arbeit ganz in Anspruch. Mir fielen Ereignisse ein, an die ich lange nicht gedacht hatte. Die allerersten Mittagessen. Die ersten gemeinsamen Spaziergänge. Der Beginn unseres Projektes. Der Tag, an dem Ika mir erlaubt hatte, eine Schnittwunde an seinem Fuß zu versorgen, ihn zum ersten Mal zu berühren. Ich schrieb alles auf. Dann ging ich meine Kamera holen.
    Die Fotos waren schrecklich. Noch schlimmer hier auf dem großen Bildschirm. Von nahem sah er aus wie tot. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war ausdruckslos. Er wirkte wie ein Leichnam auf einem Obduktionstisch. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.
    Ich fügte die Bilder meinem Text bei, ebenso wie einen gescannten Brief von Ikas Lehrerin, in dem sie mir von seinen vielversprechenden

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