Fremde am Meer
Reise nach Schweden. Das war nicht meine Idee gewesen. Ich hatte nie an eine Rückkehr gedacht. Meine frühe Kindheit schlummerte in einem verschlossenen Raum meiner Erinnerung, und ich hatte nicht das Bedürfnis, sie zu wecken. Vielleicht glaubte mein Mann, die Reise würde mich offener machen, mich dazu bringen, ihm mehr über meine Mädchenjahre zu erzählen. Aber das hätte mich gezwungen, mich der Vergangenheit zu stellen. Und dazu war ich schlichtweg nicht imstande. Also änderte die Reise nichts. Wir verhielten uns wie alle anderen Touristen, und meine Vergangenheit blieb in ihrem sicheren Versteck. Wir wohnten in einem kleinen Hotel auf einer Anhöhe im Süden, in einem Stadtteil, der keinerlei Erinnerungen heraufbeschwor. Einmal gingen wir an dem Gebäude vorbei, in dem ich gelebt hatte, doch ich gestattete mir keine Reaktion, als ich meinen Mann darauf hinwies. Er fand es wunderschön, und ich sah, dass er Recht hatte. Auch Stockholm zeigte sich von seiner schönsten Seite. Es war spätes Frühjahr, kurz bevor sich das Laub voll entfaltete. Die Bäume in den Parks waren in einen zarten, blassgrün schimmernden Schleier gehüllt. Wir spazierten hinunter zum Strandvägen und schlenderten den Kai entlang. Das Wasser roch kühl, aber die Sonne glitzerte auf seiner dunklen Oberfläche. Wir überquerten die Brücke nach Djurgarden. Da war das Nordische Museum, das Märchenschloss meiner ersten Monate in Stockholm, jener Zeit, die im Rückblick von einer Art vorsichtigen Hoffnung geprägt schien. Ich konnte an sie denken, verspürte jedoch keinen Drang, das Museum zu betreten. Es war kein Märchenschloss mehr, sondern ein pompöses Bauwerk, das mir leichtes Unbehagen verursachte, denn jetzt repräsentierte es für mich eher Größenwahn und Nationalromantik.
Ein paar Tage später bestiegen wir die Fähre nach Åland. Als wir dann auf dem Deck standen und übers Meer blickten, konnte ich sehen, wie schön es war. Der kahle Archipel lag in schlummernder Erwartung da und ließ das fahle Licht der Sonne über seine nackten Felsen tanzen. Die Tage der Seekrankheit, die mich als Kind Schiffsfahrten hatten fürchten lassen, waren eigentlich längst vorbei, aber ich merkte, wie sich mein Magen auf vertraute Weise verkrampfte. Ich war erleichtert, Stockholm hinter mir zu lassen, und doch freute ich mich nicht auf Åland. Inzwischen bereute ich die ganze Reise.
In Mariehamn holten wir den Mietwagen ab und fuhren eine gute Stunde bis ins Dorf meines Großvaters. Der Frühling war hier noch nicht so weit fortgeschritten wie in Stockholm und die Luft trotz des Sonnenscheins bitterkalt, der Himmel gläsern.
Ich fand Großvaters Haus ohne Schwierigkeiten. Aber als ich davorstand, fühlte ich nichts. Es war frisch gestrichen, in einem leuchtenden Gelb, und an zwei Seiten mit Anbauten versehen. Es war nicht Großvaters Haus – und meins auch nicht. Sein Haus lebte in meiner Erinnerung, doch als ein anderes, in einer anderen Zeit. Beide existierten nicht mehr. Ich drehte mich um und zog meinen Mann fort zu einem Spaziergang entlang der verlassenen Straße. Wir liefen hinunter ans Meer, und dort ging es mir genauso. Ich wusste, dass ich mit meinem Großvater an genau jener Stelle gewesen war, aber sie erschien mir fremd. Sie war jetzt ein anderer Ort. Wir standen da und blickten auf die flache Bucht. Mein Mann meinte, auch hier wäre es wunderschön. Und das war es natürlich.
Auf dem Rückweg zum Auto kamen wir an mehreren Häusern vorbei, sahen jedoch keine Menschenseele. Nicht, bis wir das allerletzte Haus am Rand des Dorfes erreichten. Dort stand eine Frau hinter dem Tor. Sie lächelte und grüßte uns, und wir erwiderten ihren Gruß. Als sie fragte, ob sie etwas für uns tun könne, trat ich ans Tor und stellte mich vor. Ich erklärte, warum wir gekommen waren. Einen Moment lang war die alte Frau sprachlos vor Erstaunen, dann klatschte sie in die Hände, legte den Kopf schief und schaute mich genauer und mit immer breiterem Lächeln an.
»Bist du das wirklich, Marianne?«, fragte sie ungläubig.
Sie öffnete das Tor und bat uns ins Haus. Es schien unmöglich abzulehnen. Sie bestand darauf, uns eine Tasse Kaffee zu servieren. Von uns beiden war sonst immer mein Mann der Gesprächigere, doch er konnte kein Schwedisch und war mir hier keine Hilfe. Er lächelte und rückte uns die Stühle zurecht. Ich weiß nicht, was er dachte. Als der Kaffee eingeschenkt war, setzte sich die alte Frau zu uns, und es wurde still in der
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