Fremde Blicke
genau, verstehst du. Ich habe auch gestern zu dem Mann gesagt, daß es rot war.«
»Zu wem?«
»Zu einem Mann, der hier spazieren war, der ist vor dem Hof stehengeblieben. Er wollte die Kaninchen sehen. Ich hab mit ihm gesprochen.«
Sejer spürte ein Prickeln im Nacken.
»Kanntest du den Mann?«
»Nein.«
»Kannst du mir erzählen, wie er ausgesehen hat?«
Raymond legte den roten Stift weg und schob die Unterlippe vor. »Nein.«
»Willst du das nicht?«
»Es war eben ein Mann. Du bist ja doch nie zufrieden.«
»Bitte. Ich helfe dir auch. Dick oder dünn?«
»Mittel.« »Dunkel oder blond?«
»Weiß nicht. Der hatte eine Mütze auf.«
»Ach was? War er jung?«
»Weiß nicht.«
»Älter als ich?«
Raymond schaute auf.
»Nein, nicht so alt wie du. Du bist doch ganz grau.«
Danke sehr, dachte Sejer.
»Den will ich nicht zeichnen.«
»Dann brauchst du das auch nicht. Hatte er ein Auto?«
»Nein, er war zu Fuß.«
»Als er gegangen ist, ist er da die Straße hinunter oder zur Kuppe hoch gegangen?«
»Weiß nicht. Ich bin zu Papa gegangen. Der war sehr nett«, fügte er plötzlich hinzu.
»Das glaube ich gern. Was hat er denn gesagt, Raymond?«
»Daß ich schöne Kaninchen hätte. Ob ich ihm eins verkaufe, wenn sie Junge kriegen.«
»Weiter, erzähl weiter.«
»Dann haben wir über das Wetter gesprochen. Darüber, wie trocken es ist. Er hat gefragt, ob ich von dem Mädchen am Weiher gehört und ob ich sie gekannt hätte.«
»Und was hast du gesagt?«
»Daß ich sie gefunden habe. Er fand es traurig, daß sie tot ist. Und ich habe von euch erzählt, daß ihr hier gewesen seid und nach dem Auto gefragt habt. Nach dem lauten Auto, das hier auf der Straße immer so schnell fährt? hat er gefragt. Ja, habe ich gesagt. Das hab ich gesehen. Er wußte, was das für ein Auto ist. Ein roter Mercedes. Ich habe mich sicher geirrt, als ihr gefragt habt, jetzt weiß ich es nämlich wieder. Das Auto war rot.«
»Hat er dich bedroht?«
»Nein, nein, ich lasse mich nicht bedrohen. Ein erwachsener Mann läßt sich nicht bedrohen. Das habe ich ihm gesagt.«
»Und seine Kleider, Raymond? Was hatte er an?« »Ganz normale Sachen.«
»Braune? Oder blaue? Weißt du das noch?«
Raymond blickte Sejer verstört an und hielt sich die Ohren zu. »Jetzt nerv doch nicht so schrecklich rum!«
Sejer machte eine Pause und sah ihn an. Ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen. Dann sagte er ziemlich leise: »Aber das Auto war doch grau oder grün, nicht wahr?«
»Nein, es war rot. Ich habe die Wahrheit gesagt. Drohen nützt nichts. Denn das Auto war rot, und da war er zufrieden.«
Er beugte sich wieder über den Block und machte sich noch ein wenig an der Zeichnung zu schaffen. Sein Mund war ein trotziger Strich.
»Mach sie nicht kaputt. Ich möchte sie gern haben.« Sejer hob das Blatt hoch. »Wie geht es denn deinem Vater?« fragte er nachdenklich.
»Der kann nicht gehen.«
»Das weiß ich. Ich möchte ihm gern guten Tag sagen.«
Er erhob sich und folgte Raymond durch den Flur. Sie öffneten, ohne anzuklopfen. Es war schummrig, aber das Licht reichte Sejer, um einen alten Mann in einem alten Unterhemd und einer zu großen Unterhose am Nachttisch stehen zu sehen. Seine Knie zitterten bedrohlich. Er war so mager, wie sein Sohn rund und wohlgenährt war.
»Papa!« schrie Raymond. »Was machst du denn da?«
»Nichts, nichts.« Der Alte machte sich an seinem Gebiß zu schaffen.
»Setz dich. Sonst brichst du dir noch die Beine!«
Der Alte trug Stützstrümpfe, über denen die Knie wie zwei blasse Brotpuddinge mit rosinenähnlichen Altersflecken hervorquollen.
Raymond half ihm ins Bett und reichte ihm das Gebiß. Der Alte wich Sejers Blick aus und starrte an die Decke. Seine Augen waren blaß, die Pupillen winzig klein, die Augenbrauen lang und buschig. Er schob sich das Gebiß in den Mund. Sejer trat ans Bett. Schaute zum Fenster hinüber, das auf Hof und Straße ging. Die Vorhänge waren geschlossen und ließen kaum Licht herein.
»Beobachten Sie, was draußen auf der Straße passiert?« fragte er.
»Sie sind von der Polizei?«
»Ja. Sie haben eine gute Aussicht, wenn Sie die Vorhänge öffnen.«
»Das mache ich nie. Außer bei Regen.«
»Haben Sie hier fremde Autos oder Motorräder gesehen?«
»Ist schon vorgekommen. Streifenwagen zum Beispiel. Und Ihren Gnomenschlitten.«
»Und Fußgänger?«
»Wanderer. Die wollen auf Biegen und Brechen oben auf der Kuppe Kieselsteine sammeln. Oder dieses Mottloch anglotzen. In
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