Fremde Blicke
Monate«, flüsterte sie. Bei diesen Worten bewegte sie ruckhaft den Kopf.
»Ist das passiert, als Annie gerade auf ihn aufgepaßt hat?«
Sie blickte auf. »Um Himmels willen, nein! Ich hätte fast gesagt, zum Glück, das wäre wirklich entsetzlich gewesen. Die arme Annie hat es auch so schon schwer genug genommen, ohne daß sie die Verantwortung tragen mußte.«
Neue Pause. Er holte, so vorsichtig er konnte, Atem und nahm einen neuen Anlauf.
»Aber - was war das für ein Unfall?«
»Ich dachte, Sie hätten mit Henning gesprochen?« fragte sie überrascht.
»Das schon«, log Sejer. »Aber wir sind nicht in die Einzelheiten gegangen.«
»Ihm ist sein Essen im Hals steckengeblieben«, sagte sie leise. »Ich lag im ersten Stock im Bett. Henning war im Badezimmer und hat sich rasiert, er hat nichts gehört. Und Eskil hat sicher auch nicht geschrien, er hatte doch den Bissen in der Kehle stecken. Er war auf seinem Stuhl angeschnallt«, flüsterte sie. »Wissen Sie, mit so einem Sicherheitsgurt, der für Kinder in dem Alter eigentlich einen Schutz darstellen soll. Er aß gerade sein Frühstück.«
»Ich kenne diese Stühle, ich habe Kinder und Enkel«, sagte Sejer rasch.
Sie schluckte und erzählte weiter: »Henning hat ihn mit blauem Gesicht und im Gurt hängend vorgefunden. Der Krankenwagen hat über zwanzig Minuten gebraucht, und als er endlich da war, bestand keine Hoffnung mehr.«
»Der Krankenwagen kam vom Zentralkrankenhaus?«
»Ja.«
Sejer blickte in den Laden und entdeckte vor dem Schaufenster eine Frau, die eine dort ausgestellte Strickjacke bewunderte.
»Das ist also morgens passiert?«
»Am frühen Morgen«, flüsterte sie. »Am siebten November.«
»Und Sie haben die ganze Zeit geschlafen, stimmt das?«
Plötzlich starrte sie ihm sehr direkt in die Augen. »Ich dachte, Sie wollten über Annie sprechen?«
»Es wäre schön, noch mehr über Annie zu hören«, sagte er eilig und im gleichen Moment versetzte sein Gewissen ihm einen Stich.
Aber jetzt schwieg sie. Sie setzte sich gerade hin und verschränkte die Arme.
»Ich gehe davon aus, daß Sie mit allen im Krystall gesprochen haben?«
»Das stimmt.«
»Dann wissen Sie das doch schon alles?«
»Sicher. Aber mich interessiert Annies Reaktion auf diesen Unfall«, sagte er ehrlich. »Weil sie so heftig war.«
»Ist das denn ein Wunder?« fragte Astrid Johnas sofort, ihre Stimme klang jetzt ein wenig schroff. »Wenn ein zweijähriges Kind auf solche Weise stirbt. Eins, das sie so gut gekannt hat. Sie haben sehr aneinander gehangen, und Annie war stolz darauf, daß gerade sie so gut mit ihm fertigwurde.«
»Nein, das ist wirklich kein Wunder. Ich versuche nur festzustellen, wer sie war. Wie sie war.«
»Und das habe ich Ihnen erzählt. Ich will keine Schwierigkeiten machen, aber es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden.« Wieder musterte sie ihn aus runden Augen. »Aber -Sie suchen doch wohl nach einem Sexualverbrecher?«
»Ich weiß nicht.«
»Nicht? Ach, ich bin sofort davon ausgegangen. Weil in der Zeitung stand, daß sie unbekleidet gefunden worden ist. Sie wissen ja, man liest die Zeitungen, und fast immer dreht sich alles um Sex.« Jetzt wurde sie rot und machte sich an ihren Fingern zu schaffen. »Aber was kann denn sonst der Grund gewesen sein?« »Das ist ja gerade die Frage. Wir begreifen es nicht. Soviel wir wissen, hatte sie keine Feinde. Und wir können uns doch fragen, wenn nicht Sex das Motiv war, was dann?«
»Bei solchen Leuten spielt die Logik sicher keine so große Rolle. Ich meine, bei Verrückten. Die denken doch nicht so wie andere.«
»Wir wissen aber nicht, wie verrückt er ist. Nur können wir einfach im Moment kein Motiv erkennen. Wie lange waren Sie mit Henning Johnas verheiratet?«
Wieder stutzte sie. »Fünfzehn Jahre. Als wir geheiratet haben, war Magne gerade unterwegs. Henning - er ist um einiges jünger als ich«, sagte sie rasch, wie um etwas zu bestätigen, von dem sie ausging, daß es ihn verblüffte. »Eskil war das Resultat von ziemlich ausgiebigen Diskussionen, aber wir waren wirklich einer Meinung, das waren wir.«
»Eine Art Nachkömmling?«
»Ja.« Sie starrte an die Decke, so als hinge dort ein interessanter Gegenstand.
»Ihr Ältester ist jetzt also fast siebzehn?«
Sie nickte.
»Hat er Kontakt zu seinem Vater?«
Sie musterte ihn bestürzt. »Ja, natürlich! Er fährt oft nach Lundeby, um alte Freunde zu besuchen. Aber das ist nicht immer leicht für uns. Nach allem, was passiert
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