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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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ist.«
    Das sah Sejer ein, er nickte.
    »Besuchen Sie Eskils Grab oft?«
    »Nein«, gab sie zu. »Aber Henning kümmert sich darum und hält es in Ordnung. Mir fällt das ein bißchen schwer. Solange ich weiß, daß das Grab gepflegt wird, kann ich es ertragen.«
    Sejer dachte an das verwahrloste Grab und schwieg. Plötzlich wurde die Ladentür geöffnet, und ein sehr junger Mann betrat den Raum. Frau Johnas blickte auf.
    »Magne! Hier bin ich!«
    Sejer drehte sich um und starrte ihren Sohn an. Er sah seinem
    Vater sehr ähnlich, hatte aber mehr Haare und war muskulöser. Der Junge nickte abwartend und blieb in der Tür stehen, er war offenbar nicht zum Reden aufgelegt. Sein Gesicht war mürrisch und abweisend und paßte zu seinen schwarzen Haaren und den kräftigen Oberarmen.
    »Ich muß weiter, Frau Johnas«, sagte Sejer und erhob sich. »Sie müssen verzeihen, wenn ich noch einmal komme, aber vielleicht wird sich das als notwendig erweisen.«
    Er nickte beiden zu und ging am Sohn vorbei durch die offene Tür. Frau Johnas blickte ihm hinterher und starrte dann mit gequälter Miene ihren Sohn an.
    »Er ermittelt in dem Mord an Annie«, flüsterte sie. »Aber er wollte nur über Eskil reden.«
    Vor dem Laden blieb Sejer kurz stehen. Neben der Tür stand ein Motorrad, das vielleicht Magne Johnas gehörte. Eine große Kawasaki. An diesem Motorrad lehnte eine junge Frau. Sie sah Sejer nicht, sie war mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Vielleicht hatte sie einen Kratzer im Lack und versuchte, ihn mit einem anderen Nagel zu glätten. Sie trug eine kurze rote Lederjacke mit vielen Nieten, und ihren Kopf umgab eine Wolke von hellen Haaren, die ihn an das Engelshaar erinnerten, mit dem in seiner Kindheit die Weihnachtsbäume geschmückt worden waren. Plötzlich blickte sie auf. Er lächelte, und sie hielt mit der Hand ihre Jacke zusammen.
    »Guten Tag, S0lvi«, sagte er und überquerte die Straße.
    Langsam fuhr er über die Schnellstraße und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Eskil Johnas. Ein schwieriges Kind, das außer Annie niemand hüten wollte. Und das plötzlich gestorben war, ganz allein, angeschnallt auf einem Stuhl, ohne daß irgendwer ihm hatte helfen können. Sejer dachte an seinen eigenen Enkel und schauderte, während er die Lundebysvinge und Halvors Haus ansteuerte.
    Halvor Muntz stand in der Küche und schreckte frischgekochte Spaghetti unter kaltem Wasser ab. Immer wieder vergaß er zu essen. Jetzt war ihm schwindlig, er war durcheinander, und das Valium, das er nachts genommen hatte, machte ihn tranig und träge. Das Wasser rauschte laut, deshalb hörte er nicht, wie Sejers Wagen vorfuhr. Bald darauf aber hörte er, wie seine Großmutter die Tür knallte. Er murmelte etwas vor sich hin und trottete in seinen Nike-Turnschuhen mit den schwarzen Streifen in der Küche umher. Es sah komisch aus. Auf der Anrichte standen eine Schüssel mit geriebenem Käse und eine Flasche Ketchup. Ihm fiel plötzlich ein, daß er die Spaghetti nicht gesalzen hatte. Im Wohnzimmer stöhnte seine Großmutter.
    »Schau mal, was ich im Schuppen gefunden habe, Halvor!«
    Mit dumpfem Aufprall fiel etwas auf den Boden. Er schaute durch die Tür.
    »Eine alte Schultasche«, sagte die Großmutter. »Mit Heften. Es macht Spaß, in alten Schulheften zu blättern, ich wußte gar nicht, daß du sie aufbewahrt hast.«
    Halvor trat zwei Schritte vor und erstarrte. An der Rucksackschnalle hing ein Flaschenöffner mit einer Colareklame.
    »Die gehört Annie«, flüsterte er.
    Ein Füllfederhalter hatte durch das Leder geleckt und um den Reißverschluß Tintenflecke hinterlassen.
    »Hat sie sie hier vergessen?«
    »Ja«, sagte Halvor rasch. »Ich stelle sie solange in mein Zimmer und bringe sie später zu Eddie.«
    Die Großmutter sah ihn an und verzog ängstlich ihr runzliges Gesicht. Plötzlich tauchte aus dem halbdunklen Flur eine bekannte Gestalt auf. Halvor merkte, wie ihm das Herz schwer wurde, er erstarrte, stand wie angewachsen da, die Schultasche hielt er an einem Riemen in der Hand.
    »Halvor«, sagte Sejer, »Sie müssen mit mir kommen.«
    Halvor schwankte und mußte einen Schritt zur Seite machen, um nicht zu fallen.
    Die Decke kam ihm entgegen und drohte, ihn zu erdrücken.
    »Dann könnt ihr unterwegs Annies Schultasche abgeben«, sagte die Großmutter nervös und drehte immer wieder ihren viel zu großen Trauring. Halvor sagte nichts dazu. Das Zimmer drehte sich um ihn, der Schweiß brach ihm aus, die Hand mit der

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