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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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nein!«
    »Und der Vater hatte den Krankenwagen geholt?«
    »So steht es hier, ja.« »Braucht der von hier bis Lundeby wirklich zwanzig Minuten?«
    »Ja, leider. Und noch einmal zwanzig Minuten für den Rückweg. Es war niemand dabei, der eine Trachetomie vornehmen konnte. Sonst hätten sie ihn vielleicht retten können.«
    »Was heißt das?«
    »Daß zwischen zwei Halswirbeln ein Luftröhrenschnitt vorgenommen wird.«
    »Also daß der Hals aufgeschnitten wird?«
    »Ja. Das ist ein recht einfacher Eingriff. Und vielleicht hätte ihn das retten können. Aber wir wissen ja auch nicht genau, wie lange er schon so auf seinem Stuhl saß, ehe der Vater ihn gefunden hat.«
    »Ungefähr so lange, wie eine Rasur dauert, nehme ich an.«
    »Ja, vielleicht.« Der Arzt blätterte in seinen Papieren und rückte seine Brille gerade. »Besteht der Verdacht auf - etwas Kriminelles?« Er hatte schon lange auf dieser Frage herumgebrütet. Jetzt hielt er sich gewissermaßen für berechtigt, sie endlich zu stellen.
    »Das kann ich mir nicht vorstellen. Was meinen Sie?«
    »Ich habe keine Meinung dazu.«
    »Aber Sie haben den Jungen obduziert. Ist Ihnen an diesem Todesfall etwas sonderbar vorgekommen?«
    »Sonderbar? Kinder sind eben so. Sie stopfen alles in sich hinein.«
    »Aber wenn vor dem Jungen ein Teller mit Waffeln stand und er allein war und keine Angst zu haben brauchte, daß jemand ihm etwas wegnehmen könnte - warum sollte er dann zwei Stück auf einmal in den Mund stecken?«
    »Eine Frage - worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
    »Keine Ahnung.«
    Der Arzt versank in Gedanken und versuchte wieder, sich zu erinnern. An den Morgen, an dem der kleine Eskil nackt auf dem Porzellantisch gelegen hatte, vom Hals her aufgeschnitten, an den Augenblick, als er den Klumpen in der Luftröhre entdeckt und als Waffeln identifiziert hatte. Ein einziger klebriger Pfropfen aus Eiern und Mehl und Butter und Milch.
    »Ich kann mich an die Obduktion erinnern«, sagte er leise. »Sehr gut sogar. Vielleicht bedeutet das, daß wir verwundert waren. Ach, ich weiß nicht, ich kann dazu nichts sagen. Ich bin nie auf solche Gedanken gekommen. Aber«, sagte er plötzlich, »wie sind Sie überhaupt auf diese Idee gekommen? Daß hier eine Unregelmäßigkeit vorliegen könnte?«
    Unregelmäßigkeit. Dieses unklare Wort, das so viele Möglichkeiten enthielt.
    »Naja«, sagte Sejer und sah ihn an. »Er hatte einen Babysitter. Sagen wir es so, sie hat in Verbindung mit diesem Todesfall einige Signale ausgesandt, die mich stutzig machen.«
    »Signale? Aber können Sie sie nicht einfach fragen?«
    »Das geht nicht.« Sejer schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät.«
    Waffeln zum Frühstück, dachte er. Die stammten wohl vom Vortag. Johnas hatte sicher nicht in aller Herrgottsfrühe Waffelteig angerührt. Waffeln vom Vortag, zähe, kalte Waffeln. Er knöpfte seine Jacke zu und setzte sich ins Auto. Niemand hätte darauf reagiert. Kindern blieb dauernd irgend etwas im Hals stecken. Wie der Pathologe gesagt hatte: Die stopfen alles in sich hinein. Er ließ den Motor an, überquerte die Rosenkrantzgate und fuhr hinunter zum Fluß, wo er nach links abbog. Er hatte zwar keinen Hunger, fuhr aber doch zum Gerichtsgebäude, stellte das Auto ab und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Kantine, wo auch Waffeln angeboten wurden. Er ließ sich eine Waffel, eine Schale mit Marmelade und einen Kaffee geben und setzte sich ans Fenster. Vorsichtig riß er zwei Herzen ab. Die Waffel war knusprig und frisch gebacken. Er faltete die beiden Herzen einmal und dann noch einmal zusammen und starrte sie an. Er konnte sie sich mit etwas Mühe in den Mund schieben und dann auch noch zerkauen. Das tat er, und er spürte, wie sie ohne Schwierigkeiten durch seine Speiseröhre glitten. Frischgebackene Waffeln waren glatt und fett. Er trank Kaffee und schüttelte den Kopf. Betrachtete widerwillig die unklaren Bilder, die sich ihm aufdrängten, Bilder eines kleinen Jungen, dem etwas im Hals steckte. Der mit den Armen fuchtelte, den Teller zerbrach und um sein Leben kämpfte, ohne daß jemand das hörte. Aber der Vater hatte den Teller gehört. Warum war er nicht in die Küche gerannt? Weil der Kleine dauernd irgend etwas zerbrochen hatte, meinte der Arzt. Dennoch - ein kleiner Junge und ein zerbrochener Teller. Ich selber hätte sofort nachgesehen, überlegte Sejer. Ich hätte gedacht, daß der Stuhl umgekippt sein und der Kleine sich verletzt haben könnte. Der Vater hatte sich zu Ende

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