Fremde Blicke
verfressener kleiner Wicht war, und außerdem hyperaktiv.«
Sejer versuchte, sich ein Waffelherz von der Sorte vorzustellen, wie Elise sie oft gebacken hatte. Ingrids Waffeleisen war ein anderer Typ, mit nur vier Herzen, weshalb die Waffeln nicht mehr richtig rund wurden.
»Ich kann mich noch ziemlich gut an diese Leichenöffnung erinnern. Die tragischen Fälle bleiben eben immer haften. Die meisten, die wir hier geliefert bekommen, sind zwischen achtzig und neunzig. Und ich weiß noch gut, wie diese Waffelherzen dann hier in der Schale lagen. Kinder und Waffeln gehören irgendwie zusammen. Das machte es noch zusätzlich tragisch, daß die Waffeln ihn umgebracht haben. Er hatte doch etwas Leckeres essen wollen.«
»Sie sagten gerade wir. Waren noch andere dabei?«
»Ja, der leitende Pathologe, Arnesen. Ich war damals ganz neu hier, und uns Neulingen sah er gern auf die Finger. Er ist jetzt in Pension gegangen. Wir haben eine neue Chefin.« Bei diesen Worten sah er aus zusammengekniffenen Augen auf seine Hände.
»Zwei ganze Waffelherzen. Hatte er darauf gekaut?«
»Es war jedenfalls nichts zu sehen. Sie wirkten ziemlich unbeschädigt.«
»Haben Sie Kinder?« fragte Sejer neugierig.
»Ja, vier«, antwortete der andere zufrieden.
»Haben Sie bei dieser Obduktion an Ihre Kinder gedacht?«
Der Mann starrte Sejer unsicher an und schien diese Frage nicht recht zu begreifen.
»Na ja, irgendwie schon. Oder vielleicht habe ich eher an Kinder ganz allgemein gedacht, an ihr Verhalten.«
»Ach?«
»Mein einer Sohn war gerade drei geworden. Er liebt Waffeln. Und ich rede immer auf ihn ein, wie Eltern das eben machen, er soll sich nicht soviel auf einmal in den Mund stopfen.«
»Aber in diesem Fall war niemand dabei«, sagte Sejer, »der den Kleinen ermahnen konnte.«
»Genau. Denn sonst wäre es nicht passiert.«
»Können Sie sich Ihren Sohn ungefähr in diesem Alter vorstellen, mit einem Teller voll Waffeln? Könnte er auf die Idee kommen, sich zwei Herzen zu nehmen, sie doppelt zusammenzufalten und auf einmal in den Mund zu stecken?«
Der Pathologe dachte lange nach.
»Äh - es war doch ein etwas eigenes Kind.«
»Woher wissen Sie das eigentlich? Ich meine, daß er so eigen war?«
»Vom Vater. Der war den ganzen Tag hier im Krankenhaus. Die Mutter kam später, zusammen mit dem älteren Sohn. Das steht alles in den Unterlagen. Ich habe die Kopien zusammengestellt, um die Sie gebeten haben.«
Er tippte auf den Papierstapel auf dem Schreibtisch und schob das chinesische Buch beiseite. Sejer erkannte das erste Zeichen auf dem Einband, das Zeichen für »Mann«.
»Soviel ich weiß, war der Vater gerade im Badezimmer, als das Unglück passiert ist?«
»Stimmt. Er rasierte sich gerade. Der Junge war außerdem auf seinem Stuhl angeschnallt, deshalb konnte er keine Hilfe holen. Als der Vater wieder in die Küche kam, lag der Junge über dem Tisch. Er hatte den Teller vom Tisch gefegt und dabei zerbrochen. Und das schlimmste war, daß der Vater gerade das gehört hatte.«
»Und er hat nicht nachgesehen, was los war?«
»Der Junge hat offenbar dauernd irgend etwas kaputt gemacht.«
»Wer war zu diesem Zeitpunkt noch im Haus?«
»Nur die Mutter, glaube ich. Der ältere Sohn war gerade gegangen, zum Schulbus oder so, und die Mutter schlief im ersten Stock.«
»Und hat nichts gehört?«
»Es gab wohl nichts zu hören. Er konnte ja nicht schreien.«
»Nicht mit zwei Waffelherzen im Hals, nein. Aber sie wurde dann doch geweckt - von ihrem Mann, natürlich?«
»Vielleicht hat er geschrien oder sie gerufen. Menschen reagieren in solchen Situationen sehr unterschiedlich. Manche schreien einfach nur, andere sind wie gelähmt.«
»Aber sie ist nicht mit dem Krankenwagen gefahren?«
»Sie ist nachgekommen. Sie hat erst noch den älteren Bruder aus der Schule geholt.«
»Wieviel später sind sie gekommen?«
»Mal sehen - etwa anderthalb Stunden. Nach unseren Unterlagen.«
»Haben Sie notiert, wie er sich verhalten hat? Der Vater?«
Jetzt schwieg der Arzt und schloß die Augen, wie um sich diesen Morgen vor Augen zu rufen, so, wie er verlaufen war.
»Er stand unter Schock. Er hat nicht viel gesagt.«
»Das ist verständlich. Aber das wenige, das er gesagt hat -können Sie sich daran erinnern? Wissen Sie den Wortlaut noch?«
Der Arzt blickte ihn fragend an und schüttelte den Kopf. »Es ist so lange her. Fast acht Monate.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
»Ich glaube, es war so ungefähr: O Gott, nein! O Gott,
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