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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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rasiert. Und wenn nun die Mutter doch wach gewesen war? Vielleicht hatte sie gehört, wie der Teller zerbrach? Sejer trank noch einen Schluck Kaffee und bestrich den Rest der Waffel mit Marmelade. Danach studierte er sorgfältig den Obduktionsbericht. Schließlich erhob er sich und ging zum Wagen. Er dachte an Astrid Johnas. Die allein einen Stock höher gelegen und nicht begriffen hatte, was da passierte.
    Halvor nahm sich ein Brot von seinem Teller und ließ den Computer an. Er mochte die kleine Fanfare und den Strom von blauem Licht, mit denen der Apparat den Betrieb aufnahm. Jede Fanfare war für ihn ein feierlicher Moment. Er hatte das Gefühl, dadurch als wichtige Person willkommen geheißen zu werden, als ein Ersehnter. An diesem Tag ging er anders vor. Er war in der tollkühnen Stimmung, die er von Annie so gut kannte. Deshalb legte er munter los mit »Pfoten weg«, »Zutritt verboten« und »Hau ab hier!«. Das hatte sie immer gesagt, wenn er ganz vorsichtig und kameradschaftlich den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Aber sie hatte es immer in einem liebevollen Tonfall gesagt. Und wenn er es wagte, sie um einen
    Kuß zu bitten, dann drohte sie, ihm seinen Schmollmund wegzubeißen. Ihre Stimme sagte etwas anderes als ihre Worte. Das änderte zwar nichts an ihrer Weigerung, aber so konnte er es leichter ertragen. Im Grunde war er nie richtig zum Zuge gekommen. Und doch hatte sie mit ihm Zusammensein wollen. Sie hatten sich aneinandergeschmiegt und sich gegenseitig Wärme gegeben. Und es war nicht schlecht gewesen, so im Dunkeln unter der Decke zu liegen, zusammen mit Annie, und auf die Stille draußen zu horchen, befreit von Angst und Alpträumen, die immer mit seinem Vater zu tun hatten. Der nicht mehr hereinplatzen und ihm die Decke wegreißen, der ihn nicht mehr erreichen konnte. Geborgenheit. Jemanden bei sich liegen zu haben, wie es jahrelang mit seinem Bruder gewesen war. Diesen anderen Menschen atmen zu hören, seine Wärme im Gesicht zu spüren.
    Warum hatte sie das überhaupt aufgeschrieben? Worum ging es dabei? Und würde er es begreifen, wenn er es endlich gefunden hätte? Er kaute auf seinem Leberwurstbrot herum und hörte im Wohnzimmer den Fernseher plärren. Er hatte ein bißchen ein schlechtes Gewissen, weil seine Großmutter abends immer allein war und weil das auch noch so weitergehen würde, bis er den Code geknackt hatte und zu Annies Geheimnis vorgedrungen war. Es ist etwas Finsteres, dachte er, wenn es so unzugänglich ist. Etwas Finsteres und Gefährliches, das nicht laut gesagt, sondern nur aufgeschrieben und eingesperrt werden konnte. So als ginge es um Leben und Tod. Das gab er ein. »Leben und Tod.« Nichts passierte.

ASTRID JOHNAS HATTE MITTAGSPAUSE. Sie schaute aus dem Hinterzimmer, ein Knäckebrot in der Hand, sie trug dasselbe rote Kostüm wie beim letztenmal. Sie machte ein skeptisches Gesicht. Sie legte ihr Brot auf das Butterbrotpapier, als fände sie es unpassend zu kauen, wenn von Annie die Rede war. Statt dessen konzentrierte sie sich auf den Kaffee.
    »Ist etwas passiert?« fragte sie und trank einen Schluck aus dem Thermosbecher.
    »Heute möchte ich nicht über Annie sprechen.«
    Sie hob den Becher und blickte Sejer aus großen Augen an.
    »Heute möchte ich über Eskil sprechen.«
    »Entschuldigung?« Ihr voller Mund wurde kleiner und schmaler. »Ich bin damit fertig, bin darüber hinweg. Und wenn ich das sagen darf, ich habe dafür einen hohen Preis bezahlt.«
    »Es tut mir leid, daß ich nicht rücksichtsvoller sein kann. Aber einige Einzelheiten, was den Tod Ihres Sohnes betrifft, interessieren mich.«
    »Warum das?«
    »Das brauche ich nicht zu erläutern, Frau Johnas«, sagte Sejer freundlich. »Beantworten Sie einfach meine Fragen.«
    »Und wenn ich mich weigere? Wenn ich das einfach nicht noch einmal hochkommen lassen will?«
    »Dann gehe ich«, sagte Sejer leise. »Und lasse Ihnen Zeit zum Nachdenken. Und dann komme ich wieder und stelle dieselben Fragen.«
    Sie schob den Becher beiseite, legte die Hände in den Schoß und setzte sich gerade hin. Als habe sie genau das erwartet und wolle Kräfte sammeln.
    »Ich finde das nicht richtig«, sagte sie mürrisch. »Zuerst wollten Sie über Annie sprechen, und natürlich war ich bereit, Ihnen alle Auskünfte zu erteilen. Aber was Eskil angeht - also, stellen Sie Ihre Fragen, und dann gehen Sie.«
    Ihre Hände fanden einander und verflochten sich. Als fürchte sie sich vor etwas.
    »Unmittelbar vor seinem Tod«,

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