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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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sagte Sejer, »hat er den Teller vom Tisch gefegt, und der ist auf den Boden gefallen und zerbrochen. Haben Sie das gehört?«
    Diese Frage überraschte sie. Verwundert starrte sie Sejer an, schien etwas anderes, vielleicht Schlimmeres erwartet zu haben. »Ja«, sagte sie rasch.
    »Das haben Sie gehört? Sie waren also wach?« Er musterte ihr Gesicht, registrierte den kleinen Schatten, der darüber huschte, und fragte: »Sie haben also nicht geschlafen? Haben Sie den Rasierapparat gehört?«
    Sie senkte den Kopf. »Ich habe nur gehört, daß er ins Badezimmer gegangen ist und mit der Tür geknallt hat.«
    »Woher wußten Sie, daß er ins Badezimmer gegangen ist?«
    »Das wußte ich eben. Wir hatten lange in diesem Haus gewohnt, und jede Tür hatte ihr eigenes Geräusch.«
    »Und vorher? Ehe er ins Bad gegangen ist?«
    Wieder zögerte sie und suchte in ihren Erinnerungen.
    »Ihre Stimmen, in der Küche. Sie saßen beim Frühstück.«
    »Eskil hat Waffeln gegessen«, sagte Sejer vorsichtig. »Kam das bei Ihnen häufiger vor?« Waffeln zum Frühstück. Er lächelte freundlich, als er diese Frage stellte.
    »Sicher hat er so lange herumgequengelt«, sagte sie müde. »Und am Ende hat er immer seinen Willen bekommen. Es war nicht leicht, Eskil etwas abzuschlagen, das hat bei ihm eine Lawine ausgelöst. Er konnte keinen Widerstand ertragen. Es war, als ob man Öl ins Feuer geschüttet hätte. Und Henning war nicht besonders geduldig, er konnte Eskils Geschrei nicht ertragen.«
    »Sie haben ihn also schreien hören?«
    Sie riß eine Hand von der anderen los und griff wieder nach dem Becher.
    »Er hat immer sehr viel Lärm gemacht«, sagte sie zu dem Dampf, der vom Kaffee aufstieg.
    »Gab es da Probleme, Frau Johnas?«
    Sie lächelte kurz. »Die gab es immer. Er wollte unbedingt Waffeln. Henning hatte ihm ein Brot gemacht, das er einfach nicht essen wollte. Und Sie wissen ja, wie das ist, wir versuchen alles, um unsere Kinder zum Essen zu bewegen, deshalb hat er ihm wohl die Waffeln hingestellt, oder vielleicht hat Eskil die auch entdeckt. Sie standen noch vom Vorabend unter
    Plastikfolie auf der Anrichte.«
    »Haben Sie gehört, ob irgendwelche Worte gefallen sind?«
    »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« fragte sie plötzlich. »Reden Sie doch mit Henning darüber, ich war nicht dabei. Ich war im ersten Stock.«
    »Meinen Sie, er hätte mir etwas zu erzählen?«
    Schweigen. Sie verschränkte die Arme, wie um ihn auszusperren. Ihre Angst wuchs.
    »Ich will nicht für Henning sprechen. Er ist nicht mehr mein Mann.«
    »Hat der Verlust des Kindes Ihre Ehe beendet?«
    »Eigentlich nicht. Das wäre ohnehin passiert. Wir hatten zu viele Schwierigkeiten.«
    »Wollten Sie ausbrechen?«
    »Was hat das mit Eskil zu tun?« fragte sie spitz.
    »Wahrscheinlich gar nichts. Ich frage nur.« Er legte beide Hände auf den Tisch und drehte die Handflächen nach oben. »Als Henning Eskil gefunden hat, was hat er da gemacht? Hat er Sie gerufen?«
    »Er hat die Schlafzimmertür aufgerissen, und dann stand er da und starrte mich an. Und mir ging plötzlich auf, wie still alles war, aus der Küche war nichts mehr zu hören. Ich setzte mich im Bett auf und schrie.«
    »Gibt es im Zusammenhang mit diesem Unglück für Sie irgendwelche Unklarheiten?«
    »Was?«
    »Sind Sie das alles zusammen mit Ihrem Mann durchgegangen? Haben Sie ihn gefragt?«
    Wieder sah er in ihren Augen einen Anflug von Angst.
    »Er hat mir alles gesagt«, antwortete sie kurz. »Er war außer sich vor Verzweiflung. Hatte das Gefühl, an allem schuld zu sein, nicht gut genug aufgepaßt zu haben. Und damit lebt es sich sicher nicht leicht. Er hat es nicht geschafft, und ich auch nicht. Wir mußten einfach auseinandergehen.«
    »Aber es gibt nichts an diesem Todesfall, das Sie nicht verstanden haben oder das Ihnen nicht erklärt worden ist?«
    Sejer hatte große schiefergraue Augen, die in diesem Moment sehr sanft dreinschauten, weil sein Gegenüber von etwas dermaßen erfüllt war, daß es vielleicht bald überlaufen würde.
    Ihre Schultern fingen an zu beben. Er wartete eine Weile geduldig und dachte, daß er sich jetzt nicht bewegen, nicht die Stille stören oder sie ablenken dürfe. Sie steuerte auf ein Geständnis zu. Er kannte das aus anderen Gesprächen, es lag in der Luft. Irgend etwas hatte sie gequält, und sie hatte nicht gewagt, daran zu denken.
    »Ich habe gehört, wie sie sich gegenseitig angeschrien haben«, flüsterte sie. »Henning war wütend, er ist ohnehin

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