Fremde Federn
er achtete darauf, sich vage auszudrücken: »In der dritten Klasse passierte etwas, und er drohte damit, daß er es unserem Klassenlehrer erzählen würde .«
Sie wickelte sich ein Seidenband um den Finger und hörte angespannt zu. »Was? Was war denn passiert?«
Jury dachte einen Moment nach. »Es war komisch. Aus dem Schreibtisch des Klassenlehrers war etwas verschwunden. Er hat gesagt, ich hätte es gestohlen, aber das stimmte nicht.«
Ihr Ausdruck änderte sich, sie war enttäuscht. Die Fälle waren gar nicht zu vergleichen.
Jury fügte hinzu: »Aber das war noch nicht alles. Ich glaube, er hatte es selbst gestohlen.«
Wieder änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Alles klar, schien er zu sagen. »Und er hat gesagt, das stimme nicht.«
»Ja.«
»Aber was, wenn Sie es wirklich gestohlen hätten?«
Dem ängstlichen Ton nach zu schließen, dachte Jury, ging er wohl besser davon aus, daß Jip etwas angestellt hatte. »In dem Fall wäre es meine Sache gewesen, es dem Rektor entweder zu beichten oder nicht. Das ging ihn gar nichts an.«
»Was, wenn er mitgemacht hätte? Der Junge?«
»Meinst du, wenn wir beide zusammen etwas angestellt hätten? Und er mir die Schuld in die Schuhe hätte schieben wollen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »So ungefähr.«
»Hm, ich hätte ihn nicht daran hindern können, aber das heißt doch nicht, daß ich es dem Rektor nicht auch selbst hätte erzählen können.«
»Hätte die Polizei Ihnen was getan?«
Jetzt verwechselte sie Vergangenheit und Gegenwart. »Mir? Nein. Wir hatten ja kein Verbrechen begangen.« Die beiden, Jury und der freche Junge, hatten überhaupt nichts verbrochen. Aber ein Geständnis lag so sehr in der Luft, daß Jip gar nicht mitgekriegt hatte, wie in Jurys Geschichte bislang weder von Verbrechen noch Polizeimaßnahmen die Rede gewesen war. In ihrer Geschichte spielten diese beiden Dinge aber sehr wohl eine Rolle.
Melrose kam zurückgeschlendert, fläzte sich auf die Ladentheke und tat, als höre er nicht zu. Angelegentlich betrachtete er den Kasten mit den Ringen und dann den Turban. Er fummelte daran herum und schaute von Jip zu Jury und wieder zu Jip, während die beiden sich weiter unterhielten
- alles reichlich mysteriös, fand Melrose und seufzte. Nach seiner wahrhaft barocken Geschichte von Julie und dem Schlitten schien Jip nun eifrig bemüht, Jurys Vertrauen zu gewinnen. Es störte sie aber auch nicht, daß er bei der Unterhaltung zugegen war.
»Aber was, wenn der Junge versucht hätte, Ihnen einzureden, daß überhaupt nichts passiert wäre? Daß Sie nie dagewesen wären und nichts gesehen hätten?«
Wo gewesen und was gesehen oder nicht gesehen? fragte Melrose sich und steckte sich einen Freimaurerring an den kleinen Finger.
»Na, das hätte er mir nicht einreden können.«
»Warum nicht?«
»Weil er immer da war, hinter dem Baum.«
Jips »Oh« klang immer noch skeptisch.
»Merkst du das denn nicht? Wenn es wirklich nicht passiert wäre, hätte er nicht immer hinter dem Baum hervorspringen und versuchen müssen, mir Angst einzujagen. Oder?«
Das sah sie ein. Der weitere Verlauf des Gesprächs bestand im großen und ganzen in einer Wiederholung des bisher Gesagten, gemeinsam arbeiteten sie sich durch den alten Wirrwarr, die alte Furcht, bis Jip sich überwinden konnte, über das zu reden, was wirklich passiert war.
»Ich war da«, sagte sie plötzlich. »Wir waren da. Mary Ann und ich, auf dem Friedhof.« Ehe Jury etwas sagen konnte, redete sie schnell weiter. »Aber Mary Ann sagt, ich bin übergeschnappt; sie sagt, es wäre nichts passiert.« Jip hielt den Kopf gesenkt, der Barbiepuppe zugewandt. Als treffe sie der Vorwurf, sie sei übergeschnappt, tiefer als die Szene auf dem Friedhof. »Sie hat gesagt, in der Nacht gingen immer viele Leute auf den Friedhof, um den Mann zu sehen, der die Blumen auf das Grab legt.«
Behutsam fragte Jury: »Und hast du ihn gesehen?«
Sie nickte. »Ich glaube, ja. Aber ich weiß nicht mehr genau, was ich gesehen habe. Wir waren hinten, hinter ein paar Grabsteinen - nicht zusammen, sondern an verschiedenen Stellen. Als wir dann - als ich dann so ein Geräusch gehört habe, es klang wie ein abgeschnittener Schrei, da muß Mary Ann weggerannt sein. Sie ist weggelaufen und hat mich alleingelassen. Ich bin dageblieben. Auf dem Pfad neben mir war jemand, so nahe, daß ich wußte, wenn ich versucht hätte, zu laufen, hätte er mich gesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und ich spürte, wie etwas an mir
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