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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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seltsamen Abfolge von Fenstern herstellt, als blicke man in eine in sich zusammenstürzende Welt, lehrten mich den Glauben, daß es die Perspektive ist, die konstituiert, was wir von der Realität wissen, und nicht das, was sich uns gemeinhin bei unseren alltäglichen Verrichtungen präsentiert - Bäume, Fremde, Gärten, Häuser -diese lediglich dunklen Phantasien des Verstandes -Denn diese Pforte, die auf jene Pforte schaut und wiederum auf jene und all die darauf folgenden, sich ins Endlose erstreckenden Abbilder - sie allein gestattet uns unser Wissen von der Realität, diesen alles auflösenden Blick auf die Welt.
    Jury hörte auf zu lesen und schaute unter der Seite in seiner Hand nach, ob vielleicht noch eine darunter auftauchte wie die Fenster hinter den Fenstern.
    »Das ist alles, Sir?« fragte Wiggins und hielt sein Glas in die Höhe, auf dem jetzt nur noch eine flache Schaumschicht schwamm.
    In das kurze Schweigen, das über dem Tisch hing, ertönte lautes Stammesgeheul vom Tresen, und Jury mußte erst einmal ein Gefühl der Orientierungslosigkeit abschütteln, die flüchtige Vorstellung, daß er auf einen Vorposten der Welt geraten war. Er schaute auf den Fernseher: Die Fans feuerten ihre beiden Teams an.
    »Das ist ja richtig faszinierend«, sagte Melrose und zündete sich ein Zigarillo an. »Da laufen vier Geschichten gleichzeitig ab - oder doch beinahe. Es gibt den Erzähler und seine Beziehung zu Monsieur P. Dann das, was Monsieur P. von sich erzählt. Dann die Briefe, die auf eine Beziehung zwischen Monsieur P. und einer Frau hinweisen. Und die Beziehung des Erzählers zu dieser Frau.«
    »Haben Sie noch mehr?« fragte Wiggins Ellen. Er ließ sich offenbar für sein Leben gern vorlesen.
    »Ja. Aber ich habe es in einem Aktenschrank eingeschlossen. In meinem Büro. Bei dem Gedanken, das Original herumzutragen, ist mir doch nicht so wohl. Stellen Sie sich vor, es wäre ...«
    »Von Poe selbst geschrieben?« fragte Jury. »Hat es schon jemand gelesen, der in der Lage ist, die Echtheit zu beurteilen?«
    »Hm, Professor Irwin; er ist Poe-Experte. Und Vlasic, der hält sich dafür. Aber der hält sich für alles mögliche, be-sonders bei den Studenten. Und dann Owen Lamb, den ich schon erwähnt habe, der Professor, dessen Assistentin Beverly war. Er ist Genealoge, Historiker, Spezialist für alte Dokumente, so was in dem Dreh.«
    »Und?« drängte Jury. »Was sagen sie dazu?«
    »Sie sind sich nicht einig, glauben aber überwiegend, es sei gefälscht. Vlasic legt sich natürlich nicht fest, weil er keinen Fehler machen will. Lamb hält es nicht für echt, räumt aber ein, daß er nicht auf der Basis des Textbestandes urteilt. Er glaubt nämlich, daß der tatsächliche Inhalt eines fragwürdigen Manuskripts nicht ausschlaggebend ist. Im übrigen hat Poe seine Manuskripte nicht unter Verschluß gehalten.«
    »Aber wenn es eine Geschichte von Poe ist - in den letzten hundert Jahren oder wie lange es her ist, kann doch alles mögliche passiert sein, das ihr Auftauchen erklärt. Wie ist Beverly darauf gestoßen? Was hat sie denn gesagt, wo sie sie gefunden hat?«
    »Beverly hat behauptet, sie habe eine alte Truhe in einem Antiquitätenladen hier in der Nähe durchstöbert. Da sei das Manuskript drin gewesen.«
    »In einer Truhe, große Güte«, lachte Melrose.
    »In einem Laden in der Aliceanna Street.« Ellen deutete mit dem Kopf hinter sich.
    »Und was ist mit der Handschrift?«
    »Das ist wieder ein ganz anderes Problem. Darum kümmert sich ein Handschriftenexperte.«
    Jury schüttelte den Kopf. »Ich finde das schiere Ausmaß einer solchen Fälschung verblüffend. Du lieber Himmel, man braucht ja schon einiges Talent, nur um eine Unter-schrift nachzuahmen. Eine ganze Geschichte in der Handschrift eines anderen Menschen zu schreiben, scheint mir unvorstellbar. War sie zu einem solchen Unternehmen fähig?«
    Ellen fummelte mit der Plastikhülle der Originalseite herum und überlegte einen Moment. »Ja.« Sie lehnte sich zurück und holte tief Luft. »Beverly war ehrgeizig. Sie war entschlossen, zu kriegen, was sie wollte. Und wenn sie ihren Doktor hatte, wollte sie in Harvard unterrichten. Nicht irgendwo, sondern in Harvard, und damit basta. So war sie eben: Sie wußte genau, was sie wollte.«
    »Jobs in Harvard gibt’s aber wahrscheinlich nicht im Dutzend billiger«, sagte Wiggins.
    »Es sei denn«, sagte Melrose, »der Gegenstand der Dissertation ist die Analyse eines jüngst entdeckten Manuskripts, das

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