Fremde Federn
düsteren Haus an der Seine. Die Begleitumstände unserer Begegnung und der darauf folgenden Bekanntschaft waren höchst ungewöhnlich.
M. P- erschien zum erstenmal vor mir - eine seltsame und unirdische Erscheinung, es war, als habe sich aus dem wogenden Bodennebel ein Gespenst oder ein Geist gebildet und die Gestalt eines lebendigen Menschen angenommen. Die Begegnung fand in den Tuilerien an einem Abend im November statt, einem Abend schier undurchdringlichen Nebels und Regens. Der Gentleman schien sich in einigem Ungemach zu befinden; ich vermochte nicht festzustellen, ob dies einem körperlichen Gebrechen oder dem Unbehagen geschuldet war, welches uns so oft übermannt, wenn das Wetter fast unerträglich trübe ist, wie es dieser abendliche Regen gewißlich war.
»Er spinnt«, sagte Melrose.
»Was?« sagte Ellen. »Unterbrechen Sie doch nicht.«
»Aber hören Sie nur, wie er redet.«
Ellen stieß Jury an. »Weiter.«
... wie es dieser abendliche Regen gewißlich war. Kurzum, der Mann stolperte, und vor dem Fallen konnte er sich nur bewahren, indem er sich auf eine Bank sinken ließ.
Ich wollte schon an ihm vorübergehen, doch in seinen Gesichtszügen und seiner Haltung lag etwas, das mich davon abhielt. Ich fragte ihn, ob ich ihm behilflich sein könne, ob er sich unwohl fühlte, und versuchte in jedweder Weise, mich zu seiner Verfügung zu stellen.
Er schaute zu mir empor mit Augen, die geradezu brannten; er lächelte, bemüht, die Ohnmacht, in die er beinahe geglitten wäre, als ein Geringes erscheinen zu lassen. Er erhob sich; ich indes wollte ihn in diesem Zustand nur ungern verlassen. Wir sprachen eine Weile miteinander, und als schließlich der Regen nachgelassen und der Nebel sich gelichtet hatte, bat er mich, ich möge die Güte haben, ihn zu seiner Wohnung in der Rue - zu begleiten und ein Glas Wein mit ihm einzunehmen.
Das tat ich nur allzugern; schon nach den wenigen Augenblicken, die ich in seiner Gesellschaft zugebracht hatte, empfand ich eine starke Neigung, an seiner Seite zu bleiben - so sehr zog er mich in seinen Bann.
Aber wie schlecht war ich auf den Reichtum, fast könnte ich sagen, den Luxus der Räumlichkeiten des M. P- vorbereitet. Das zarte Spitzengewebe der Gardinen, die üppigen Wandbehänge, die dichten Falten der Vorhänge, die schweren Sessel, deren hölzerne Lehnen und Beine zu abstoßenden Fratzen geschnitzt waren, sich in Seelenqualen windenden Mönchen ähnlich, die Wände mit goldgerahmten Gemälden so überladen, daß die blutrote Farbe der Tapeten dazwischen kaum sichtbar war. Und durch den Raum wehten die Düfte seltener Kräuter, einer sonderbaren, mit Öl gefüllten Glaskugel entströmend.
Wir nahmen in dieser außergewöhnlichen Umgebung Platz; der Wind vom Ruß hob die Gardinen und wehte die stechend süßen Wohlgerüche durch das Zimmer. Mein Gastgeber saß vollkommen schweigsam, den Kopf leicht nach vorn gebeugt, in einem der gespenstischen Sessel.
»Die Öle haben eine beruhigende Wirkung auf mich«, sagte er, »denn ich habe beständig das Empfinden, als würde ich entzweigerissen.«
Seine Stimme erreichte neue Tiefen der Melancholie, und ich murmelte einige törichte Worte der Hoffnung und des Trostes der Art, die oft nur dazu dient, bei dem Leidenden die Gefühle der Bedrängnis zu verstärken, tritt dabei doch um so deutlicher zu Tage, daß der Redende den Schmerz des Leidenden nicht mitzuempfinden vermag.
Ich erinnere mich, daß beim Anblick eines so über die Maßen großen Jammers in der Miene eines Menschen, dem es doch offensichtlich an nichts gebrach, ein Schauder durch meinen Körper rann.
Als er die Augen schloß und den Duft des Öls einatmete, betrachtete ich das große Fenster hinter ihm. Durch dieses Fenster, das auf einen kleinen schmeideeisernen Balkon führte, konnte ich ein weiteres Fenster in der Fassade des gegenüberliegenden Hauses sehen, ein Fenster, das fast die gleichen Ausmaße wie dieses hier hatte; und durch jenes Fenster sah ich am anderen Ende eines recht großen Raumes noch ein Fenster. Mich dünkte, mein Blick werde durch das Fenster hinter M. Peingerahmt in stetig sich verjüngender Perspektive, die man unmöglich erhält, wenn man lediglich auf einen entfernten niedrigen Horizont schaut, dessen einziges Maß die Erde darunter und der Himmel darüber sind.
Die Tage und Wochen, die auf meinen Besuch in M. P-s Wohnung folgten, lehrten mich, an diese PERSPEKTIVE zu glauben, den verkleinernden Blick, der sich mittels dieser
Weitere Kostenlose Bücher