Fremde Federn
treffen.«
Vor der Gilman Hall gab Melrose Hughie ein reichliches Trinkgeld. »Ich kann gar nicht sagen, wie gut es mir gefallen hat.«
»He, kein Problem. Egal, wo Sie hinwolln, solange Sie hier sind, brauchen Sie bei mir nur anklingeln.« Hughie kritzelte seine Nummer auf ein Stück Papier. »Ich häng aber eh in Fells Point rum, immer an derselben Stelle.«
»Wenn ich einen Führer brauche, weiß ich, wo ich einen finde.«
»Klaro. Und das Ding da können Sie wegschmeißen.« Hughie deutete mit dem Kopf auf Melroses Stadtführer.
»Recht haben Sie.« Melrose entdeckte ein paar Meter entfernt einen Papierkorb und warf das Buch hinein.
»So. Bis bald.« Hughie klemmte sich energisch hinters Steuer, schaltete in den Rückwärtsgang und ließ eimerweise Straßenschotter aufspritzen. Den Arm aus dem Fenster hängend, donnerte er die Auffahrt hinunter. Zwei Studenten retteten sich mit einem Hechtsprung zur Seite und ließen ihre Bücher fallen.
Melrose winkte und begab sich wieder zu dem Papierkorb. Ein Mädchen in einem indischen Gewand stand da und beobachtete, wie er in dem Abfall nach seinem Stadtführer wühlte. »Der ist mir hier reingefallen«, sagte er lächelnd.
Ein ungläubiger, verächtlicher Blick unter dunklen Augenbrauen hervor: Penner auf dem Campus ...
Kapitel 15
»Philip?«
Die junge Frau riß die Augen auf. Die Brille war viel zu groß für ihr zartes, dreieckiges Gesicht. Im Licht der Wandleuchten sah ihr Haar wie durchscheinendes Gold aus.
Er hatte Glück gehabt. Nach dem Wachmann am Ende der Einfahrt und der Dame, die in dem Kabuff am Eingang die Eintrittskarten abriß und das sichtlich als Zumutung empfand, war sie die dritte gewesen, der er in der Barnes Foundation begegnete.
Sie schob einen Bücherstapel von einem Arm in den anderen und wiederholte: »Philip?«
Jury hatte außerdem Glück, daß diese junge Frau so freundlich war. Bisher hatte er nämlich den Eindruck gewonnen, daß die Barnes Foundation ihre Pforten dem allgemeinen Publikum nur auf äußersten Druck hin geöffnet hatte und sie mit Freuden wieder zugeknallt hätte, selbst Scotland Yard ins Gesicht. Feste Öffnungszeiten und eine strenge Hausordnung. Pfennigabsätze verboten! Was das wohl alles sollte?
»Philip.« Beim drittenmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung, eine traurige; sie sagte den Namen langsam, versuchsweise, als bemühe sie sich um eine Erinnerung an den genauen Ort und die Zeit, um ihn einzupassen. Oder hatte er wieder einmal eine zu lebhafte Phantasie? Konnte man einen Namen so bedeutungsschwer aussprechen? Vielleicht lag es an ihrem Gesichtsausdruck -der war noch wehmütiger als ihre Stimme.
»Philip Calvert hat hier gearbeitet, soweit ich weiß«, sagte Jury.
Sie schaute auf die schweren Bücher hinunter. »Ja, stimmt. Hat er.« In dem »hat er« lag eine solch schmerzliche Endgültigkeit, daß Jury zögerte, ihr weitere Fragen zu stellen. Er war es einigermaßen gewöhnt, Menschen mit dem Ableben von Freunden und Angehörigen zu konfrontieren; aber bei dieser jungen Frau stockte er und fragte sich, ob sie auch auf andere eine solche Wirkung hatte -und ob man vor einem Menschen wie ihr nicht sogar zurückschreckte, weil man sich ihr gegenüber hilflos fühlte. Ja, er hatte Glück im Unglück, sofort auf jemanden zu stoßen, der Philip Calvert offenbar gut gekannt und sehr gemocht hatte.
»Sie sind nicht zufällig Heather?«
Das überraschte sie. »Ich bin Hester. Aber woher kennen Sie mich?«
»Durch eine Lady Cray. Lady Cray wohnte mit Philips Tante, Mrs. Hamilton, zusammen. Frances Hamilton.«
»Philip hat manchmal von ihr geredet - von beiden, ja. Aber ich kannte sie nicht.«
»Die Damen kannten Sie. Wußten von Ihnen. Philip hat nämlich von Ihnen erzählt.« Jury lächelte, er hoffte, sie würde sich darüber freuen.
Sie freute sich auch. Das blasse Gesicht leuchtete auf, die Wangen wurden rosiger, die Augen ein bißchen weniger blaßgrau, lebhafter. »Wir waren gute Freunde.« Als sie lächelte, schienen sogar ihre Lippen voller.
»Hester, würden Sie einen Kaffee mit mir trinken? Oder so kurz vor der Mittagspause nicht mehr?« Jury sah auf die
Uhr; es war gerade erst elf. »Oder ist es überhaupt zu früh für Sie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bringe mir immer Brote mit. Ich habe zwei dabei; wollen Sie eines?«
Dieses Anerbieten empfand er als so spontan liebenswürdig - sie wußte ja gar nicht, wer er war, hatte nicht einmal gefragt -, daß sich ihm die Kehle
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