Fremde Federn
hat.«
»Danke.« Ihre Stimme war ganz leise. Sie holte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, betupfte sich mit einer altmodischen Geste die Augen und schneuzte sich dann sehr geräuschvoll die Nase.
»Jemand, der so jung ist, denkt eigentlich nicht an ein Testament -«
Oder Gräber und Grabinschriften, fügte er nicht hinzu.
»- und daran, was er seinen Freunden oder der Familie hinterläßt.«
Aus irgendeinem Grunde kriegte Jury den Jüngling Chatterton nicht aus dem Kopf. »Wahrscheinlich glauben wir in dem Alter, daß wir ewig leben. Wissen Sie, was mir an Philip Calvert am meisten auffällt? Wie vernünftig er war. Mit siebenundzwanzig ist man bestenfalls charmant, aber selten vernünftig.«
Sie schaukelte, den schönen, hellen Kopf auf die Rückenlehne des Stuhls gelegt. »Ist er aber. War er.« Sie wandte das Gesicht vom Ofen ab. Jury wußte nicht, ob sie wegen der Hitze rosiger aussah oder weil sie unglücklich war. Sie sagte: »Er hat mir sehr geholfen, weil er so ruhig war. Ich rege mich immer so leicht auf und handle zu impulsiv.«
Jury ließ von dem Papierbeschwerer ab; er mußte ein Lächeln verbergen, als er sagte: »Ja, stimmt. Sie sind mit mir hergefahren.«
Aber sie kriegte seine scherzhafte kleine Bemerkung gar nicht mit. »Es war für mich gut, jemanden - Sie wissen schon - Festes zu haben.«
Der Schnee fiel auf die stille Szene in der Glashalbkugel. Nach ein paar Augenblicken des Schweigens erhob er sich. »Wir sollten besser losfahren.«
Sie schlang den Mantel um sich und stand auf. Der Stuhl schaukelte weiter.
Es war später Nachmittag. Auf dem Rückweg hielten sie an einem Diner, den Hester mochte und in dem sie und Philip oft gegessen hatten.
»Ich gehe gern in diese Lokale«, sagte sie, als sie in einer Nische mit grünen Kunstlederbänken Platz genommen hatten. Jurys Sitz war mit grauem Isolierband geflickt. »Und wenn die Bänke nicht mit Klebestreifen geflickt sind, ist es nicht das Richtige.«
»Sonst noch Vorschriften?«
»Jede Menge. Die Speisekarten müssen verkleckert und die Spezialitäten mit der Hand und vorzugsweise mit Bleistift und Rechtschreibfehlern geschrieben sein. Wenn nichts falsch geschrieben ist, ist man verarscht worden. Mal sehen, gibt’s in England Roastbeef Sandwiches mit Kartoffelbrei und Soße?« Jury verneinte. »Und als Beilage Krautsalat?«
Die Kellnerin kam, nahm ihre Bestellung auf und servierte das Ganze mit einer Geschwindigkeit, die Jury atemberaubend fand. In wohligem Schweigen verzehrten sie ihre Sandwiches.
Hester griff noch einmal zur Speisekarte: »Pie, am besten mit Vanilleeis und Apfel - hier ist es richtig gut.«
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Jury.
»Ach, du meine Güte - jetzt jammern Sie nicht!« Hester bestellte. Die Kellnerin kam zurück, eine Kugel Vanilleeiskrem zerschmolz auf dem dicken Stück. Die knusprige braune Kruste wölbte sich über der Füllung, man sah die Apfelstückchen hervorquellen. Es dampfte. Kein Wunder, daß dies das große amerikanische Dessert war.
Hester beobachtete ihn mit einem Lächeln.
Jury machte der Kellnerin ein Zeichen, daß er auch ein Stück wollte.
Sie stürzten sich darauf.
Süß, sauer; heiß, kalt; weich, hart - der Geschmack war unglaublich.
»Hester, was wollen wir mehr?«
Kapitel 16
Mit seinem Band französischer Romantiker, dem Stadtführer und Ellens Buch ging er über den Campus, seine Gedanken schweiften zwischen den Rätseln »Beverly Brown und das Poe-Manuskript« und »Sweetie und Maxim« hin und her. Er dachte an das Fenster in Monsieur P-s Zimmer, von dem aus man in das Gebäude auf der anderen Seite des Hofes schaute und dort durch ein weiteres Fenster durch einen weitläufigen Raum zu noch einem Fenster. Maxims Zimmer waren riesig, die Böden mit luxuriösen Orientteppichen belegt, die Möblierung spartanisch. Ein Raum war leer bis auf einen Flügel, über den ein blauer Schal drapiert war. An diese Einzelheiten erinnerte sich Melrose; die Beschreibung war eindrucksvoll. Und im Eßzimmer saß Maxim auf dem einzigen Stuhl am unteren Ende des Tisches ...
Melrose blieb stehen, setzte sich auf eine Bank vor einem stattlichen weißen Gebäude und las:
Sweetie sah Maxim wie durch eine Kolonnade von Türen, jede öffnete sich auf den Raum dahinter, und am Ende befand sich das Eßzimmer, in dem Maxim an dem langen Mahagonitisch beim Frühstück saß.
Sie ging durch die Türen in den Raum, blieb stehen und schaute von dem Tisch zu der Reihe hoher Fenster, die auf die weiten
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