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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Rasenflächen führten. Der Springbrunnen war trocken; der Bronzeknabe ritt den Fisch durch dunkelgefleckten Zement.
    Was lief hier ab? Es war doch völlig widersinnig. Vor einem Dutzend Seiten waren die Gärten jenseits der Fenster noch in Blumen erstickt, die an diesem warmen Frühlingstag blühten und gediehen. Der Teich war voll Wasser gewesen.
    Und nun lag Maxim in einer Blutlache auf dem Eßzimmerfußboden. Was lief hier ab? Ärgerlich, weil er sich von dieser schrägen Geschichte hatte einfangen lassen, klappte er Fenster zu. Aber auch unfähig, sich dagegen zu wehren, langte er in seine Ledermappe, holte die Kapitel des neuen Buches heraus, die Ellen ihm gegeben hatte, und fing an zu lesen.
    Sweetie stand mit dem Bratenwender in der Hand in der Küche, pochierte ein Ei und versuchte, sich ihren Tod vorzustellen. Sie beobachtete, wie das klare Eiweiß milchig-opak wurde, wie die Briefumschläge unter dem Briefschlitz. In einer anderen Pfanne brutzelten Würstchen, das Fett spritze. Sie hob das Ei heraus, ließ es abtropfen und legte es behutsam auf eine Scheibe Toast.
    Sie setzte sich an den Tisch, aß kleine Bissen Wurst und überlegte während des Kauens, wie es sich anfühlte zu sterben oder wahnsinnig zu werden. Wie wurde man »wahnsinnig«? Wie um alles in der Welt würde es sein? Verdunkelte sich der Verstand wie der Mond bei einer Mondfinsternis? Ihre Küche befand sich im Souterrain, vom Bürgersteig schien Sonnenlicht durch das Fenstergitter und malte Streifen auf das weiße Linoleum. Sweetie dachte daran hinauszugehen. Hinauszugehen und zu laufen, ein bißchen frische Luft zu schnappen, diese Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen - würde sie es schaffen? Würde das Sonnenlicht sie nicht blenden und wieder hineintreiben?
    Was für eine Erklärung konnte es für die Briefe an Lily geben, außer der, daß sie wahnsinnig wurde? Und dennoch hatte sie das Gefühl, daß ihr Verhältnis zu den Dingen dieser Welt sich nicht verändert hatte. Sie blickte auf das kleine Zifferblatt ihrer Armbanduhr und sah, daß der Sekundenzeiger genauso eilfertig vorruckte und der Minutenzeiger die Zeit genauso ordentlich einteilte wie immer. Aber wie sonst war zu erklären, was passierte? Als sie aus der Porzellandose mit dem Blumenmuster Zucker löffelte, fühlte sie sich zwischen den vertrauten Gegenständen der Küche durchaus wohl. Zuckerdose, weißes Milchkännchen, Teetasse. Sie konnte sie so leicht und selbstverständlich wie immer benennen. Aber was, wenn sie die Namen vergaß? Vergaß man die Namen gewöhnlicher Dinge, wenn man wahnsinnig wurde?
    Sorgfältig riß sie eine Ecke von der Serviette ab, nahm einen Bleistift aus dem Marmeladenglas, schrieb das Wort Z U C K E R darauf und legte das Papier in die Zuckerdose. Sie schaute es sich an, lächelte ein wenig, schrieb auf einen anderen Fetzen Papier SALZ und legte ihn unter das Salzfaß. Ein weiteres Stück Papier - GLAS - leckte sie mit der Zunge ein wenig an und drückte es an das Glas Milch.
    Das Telefon klingelte. Sweetie blieb vollkommen still sitzen. Sie war sicher, daß, wenn sie den Hörer abnahm, in der Leitung nichts sein würde als Schweigen. Oder wenn sie etwas hörte, würde eine Stimme sagen: »Hallo, hallo, hallo? Lily?«
    Beim neunten Klingeln dachte sie, es könnte vielleicht doch Bill sein oder Jane oder sonstwer. Sie aß ihr Ei, wischte mit dem letzten Stück Toast in dem Eigelb herum und hörte dem Klingeln zu. Dreizehnmal. Als es aufhörte, dachte sie, es war bestimmt für mich, und wenn es noch einmal klingelt, gehe ich dran.
    Es klingelte noch einmal. Sie ging nicht dran.
    Du kannst, sagte sie zu sich, folgendes tun: Du kannst dich auf den Polsterstuhl vor die Tür setzen und den Briefschlitz beobachten, und wenn wieder ein Umschlag durchrutscht, schnell die Tür aufmachen. Sie setzte sich hin; sie bemerkte nicht, wie die Zeit verstrich. Letztendlich, das wußte sie, war es sinnlos; wer immer es war, er war gewappnet und verschwunden, ohne daß sie ihn zu Gesicht bekam. Ihn oder sie. Die Person würde sich in Luft auflösen, bevor sie sie zur Rede stellen konnte.
    Du kannst aber auch etwas anderes tun, sagte sie sich. Sie zog einen Umschlag aus der Banderole, faltete ein Blatt Briefpapier und steckte es hinein. Sie leckte die Lasche an und drückte sie fest. Dann
    drehte sie den Brief um und schrieb in Druckbuchstaben darauf:
    MAXIM.
    Sweetie ging zur Tür und schob den Umschlag durch den Briefschlitz. Die Dunkelheit war hereingebrochen.

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