Fremde Federn
spät am Tag, vermutete er. Dann flog ein Schwarm unter dem bleichen Himmel über sie hinweg. Irgendwoher kam das heisere Schreien von Gänsen.
Er ging zu Hester; in den Nadeln und abgefallenen Blättern machten seine Schuhe ein weiches, knackendes Geräusch. Kiefernzapfen plumpsten ihm vor die Füße.
Sie stand da und schaute auf einen schmalen Bach. Jury legte ihr die Hand auf die Schulter, sie drehte sich um, und zusammen gingen sie hinein.
Die Hütte war sehr einfach eingerichtet, die Möbel hatte Philip bestimmt gebraucht in einem der in Scheunen untergebrachten Trödelläden erstanden, an denen sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen waren. Wie Hester gesagt hatte, gab es einen dickbäuchigen Ofen. An einer Wand stand ein großes Roßhaarsofa, der Bezug unter den Decken mit indianischem Muster war bestimmt abgesessen. Zwei weitere Decken hingen an den Wänden. Ein Schaukelstuhl stand neben dem Sofa, neben der Küche ein Drehstuhl und ein großer Holztisch, ein Allzwecktisch mit Büchern, Papieren und einer Bogenleuchte. An der hinteren Wand des Raumes befand sich ein Stockbett, auf dem ebenfalls indianische Decken lagen. Die Wand war mit Bücherregalen vollgestellt. Es war alles sehr behaglich.
Hester schaute ein paar Schallplatten durch, die neben einem alten Grammophon aufgestapelt waren. Jury nahm vom Tisch etwas auf, das sicher einmal als Papierbeschwerer gedient hatte, und stellte fest, daß es eine kleine Spieluhr war. »Sie spielt die Titelmelodie aus Doktor Schiwago«, sagte Hester und schob eine Schallplatte in die Hülle.
Auf der Spieluhr befand sich eine Glashalbkugel mit einer Winterszene darin. Jury schüttelte sie und sah zu, wie der Schnee fiel. Er lächelte. Er hörte eine Uhr ticken, blickte in den dunklen hinteren Teil des Raumes und sah eine alte Standuhr. Er schaute Hester fragend an.
Sie antwortete mit einem kleinen Achselzucken. »Letzte Woche war ich hier und habe sie aufgezogen. Ich dachte, auch wenn die Hütte mir offiziell noch nicht gehört, tue ich ja nichts Unrechtes.« Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl, als sei sie erschöpft, legte die Hände auf die Armlehnen und fing an zu schaukeln.
Jury blieb stehen und schaute sich im Zimmer um, spürte seiner Atmosphäre nach. Im Laufe seiner Arbeit war er in vielen Räumen gewesen, aber so verschieden sie auch waren, sie hatten immer eines gemeinsam: Sie schienen auf etwas zu warten. So empfand er es zumindest. Sie schienen darauf zu warten, daß ihr Bewohner wiederkommen würde. Es drückte sich in den kleinen Dingen aus - der Tasse und Untertasse auf der Küchenablage, dem Geschirrtuch und dem Spülmittel, dem Buch, das aufgeschlagen auf dem Regal lag, der Spieluhr, die auf ein paar Blättern Papier lag. Nichts war weggeräumt worden; es schien, als laste auf den Dingen noch der Druck der Finger, die sie zuletzt berührt hatten. Er war so jung, dachte Jury. Zu jung, um nie mehr zurückzukommen, das Buch zu lesen oder Tasse und Untertasse abzuwaschen.
In einer schwarzen Kohlenschütte waren ein paar Kohlen; Jury machte Feuer, und Hester schob ihren Stuhl dichter an den Ofen. Jury begann, die Hütte genau zu untersuchen. Natürlich sinnlos, nach all den Wochen. Trotzdem. Er zog die Schreibtischschubladen auf, blätterte die Bücher im Bücherregal durch, überprüfte die Fenster, die Tür.
»Ich mag nicht mehr nach Hause gehen.«
»Was?« Ihre Stimme riß ihn aus seinen Gedanken an Philip Calvert.
»Ich gehe nicht mehr gern nach Hause. Vorher gab es immer den Gedanken, daß Phil vielleicht anrufen würde und wir miteinander reden würden. Oder uns im Café treffen. Manchmal sind wir ins Kino gegangen. Wenn ich jetzt in meine Wohnung gehe - es ist nur ein Apartment mit Kochnische -, kann ich einfach nicht dort bleiben. Ich gehe raus und esse ein Eis oder trinke eine Tasse Kaffee. Ich laufe viel herum. Ich warte, daß es spät genug wird, um ins Bett zu gehen. Man darf nicht zu früh gehen; sonst fühlt man sich alt. Also gehe ich spazieren oder bleibe in einem Café sitzen, bis ich wieder zurück und ins Bett gehen kann.«
Er setzte sich auf den Stuhl an dem Tisch, schaute sie an, und dachte an die Worte auf dem Gemälde von Holman Hunt in der Tate. Wenn man jemandem, der ein gebrochenes Herz hatte, Lieder sang, war das, als würde man ihm in der Kälte den Mantel fortnehmen. So ähnlich. Tröstende Worte spendeten dem Leidenden oft gar keinen Trost, sondern verschafften nur dem Tröstenden Erleichterung. Jury sagte
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