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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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den Schrank gelegt, damit sie ihn immer noch erreichen konnte, wenn sie sich langmachte und streckte. Aber das war Quatsch, denn als sie sich eines Tages mit einem beherzten Sprung darauf gestürzt hatte, hatte sie sich das Kinn am Metallgriff aufgeschlagen. Also legte sie nun zuerst den Schlüssel außerhalb ihrer Reichweite und schob dann das Schloß durch die Kette.
    Es entbehrte allerdings nicht einer gewissen Peinlichkeit, wenn sie am Ende ihrer zwei- bis dreistündigen Schreibschicht jemanden bitten mußte, ihr den Schlüssel zu holen, und sie war immer baß erstaunt, daß ihr derjenige auch noch abnahm, sie habe »sich irgendwie mit dem Fuß in der verdammten Fahrradkette verfangen« oder spiele gerade ein dämliches Spielchen oder wolle eine Wette mit einem Kollegen gewinnen.
    In einem Anfall von Panik ließ sie sich schwerfällig wieder auf dem Drehstuhl nieder und fragte sich, ob er nicht doch eine Idee zu bequem für sie sei, ob er sich den Konturen ihres Rückens nicht ein wenig zu gut anpaßte. Die Bemerkung eines Autors kam ihr in den Kopf, vielleicht eines Sportjournalisten oder eines Kolumnisten, die einen festen Redaktionsschluß hatten. Nur wenn einem jemand das Gewehr auf die Brust setzt, schreibt man. Ellen schloß die Augen und stellte sich vor, daß ihr jemand ein Gewehr auf die Brust setzte, aber es nützte nichts. Es müßte natürlich ein echtes Gewehr sein. Punktum.
    Sie glitt tiefer in den Stuhl, zog ihren schweren Schafswollpullover hoch und drapierte ihn sich um den Kopf. Saß da und dachte über den Mann mit der eisernen Maske nach. Wenn er Schriftsteller gewesen wäre, unter welchen Bedingungen hätte er geschrieben? Was hätte das arme Herzchen gemacht, wenn er wie sie dabei an den Nägeln hätte kauen müssen? Mit dem Kopf im Pullover erhob sie sich, fand, die Arme nach möglichen Hindernissen ausgestreckt, blind den Weg zum Fenster, spürte die kalten Fensterscheiben an den Fingern und blieb dort stehen. Konnte jemand sie von unten auf dem Gehweg sehen? Sie holte tief Luft, zog den Pullover herunter und kaute an ihrem Daumennagel. Den Rücken an die Wand gepreßt, tat sie dann so, als sei sie Fortunato aus Poes Erzählung Das Faß Amontillado und werde gleich eingemauert. Wenn Fortunato Schriftsteller gewesen wäre, was für ein Arrangement hätte Montresor mit ihm zu treffen versucht? Kein ganzer Absatz, Fortunato? Was? Aber doch gewißlich einen Satz! Nein? Ellen hob den Arm und zog ihn zurück: Rumms! Noch ein Ziegelstein draufgeklatscht!
    Sie schleppte sich zurück zum Stuhl, sank darauf zusammen und nahm den Filzer. Legte ihn wieder hin. Sie hatte einen Bärenhunger.
    Sie hatte versucht, sich auch in ihrer Wohnung die Kette ans Bein zu binden, aber es funktionierte nicht, weil sie nichts zum Festmachen finden konnte, das schwer genug war, um als Gegengewicht zu funktionieren. Sie fühlte sich an jemanden erinnert, der Selbstmord verüben will und einen kräftigen Balken oder einen starken Haken sucht, um den Gürtel oder das Seil darumzuwinden. Ein paarmal war es soweit gekommen, daß sie Möbelstücke am Fuß durch die Gegend gezerrt hatte - den schweren Ohrensessel, sogar eine dunkle, vierhundert Jahre alte Kommode, von der sie gedacht hatte, die würden keine zehn Pferde wegbringen -, und alles nur, weil sie den Schlüssel erreichen und ins Horse oder den Pizza Palace gehen wollte. Als sie die Kette schließlich am Herd verankert hatte, hatte diese soviel Spielraum, daß sie ans Telefon langen und sich eine Pizza ins Haus bestellen konnte. Und dann hatte die Kette wahrhaftig noch bis zur Tür gereicht. Der Lieferjunge war fasziniert. Sie erzählte ihm, sie hätte die Hauptrolle in Les Miserables. Er glaubte ihr aufs Wort.
    Der Grund, warum sie nicht schreiben konnte, war nicht, daß sie Sweetie nicht mochte. Sie liebte Sweetie. Sie mochte ihre unaufwendigen Kleider, die Faltenröcke und pastellfar-benen Strickjacken, ihre einfache Frisur, ihr klares Gesicht.
    Warum versuchte jemand, sie in den Wahnsinn zu treiben? Doch Ellen war gar nicht so sicher, daß jemand es versuchte. Sie legte den Kopf nach hinten über den Stuhl zurück und sann darüber nach, wie weit sie sich zurücklehnen konnte, bis sie fiel.
    Sie starrte die Neonröhren an, die dunklen Leichname der Motten, die sich darin verfangen hatten. Dann beugte sie sich vor und schrieb:
    Sweetie beugte sich über die weiße Pralinenschachtel.
    Das Problem war folgendes: In dieser zweiten Geschichte, die sie jetzt gerade

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