Fremde Federn
schrieb, erhielt Lily Briefe von jemandem, den sie nicht kannte, und gestern hatte sie sogar eine Schachtel Pralinen bekommen. Ellen schloß die Augen. Und ließ Lily erst einmal einen Moment außer acht.
Sweetie wußte nicht, was für Pralinen es waren.
Sie hatte Angst, die Schachtel zu öffnen.
Ellen hielt inne und lehnte sich zurück. Etwas an der Schachtel Pralinen war nicht geheuer. Sie legte den Kopf auf die Hände, rieb sich die Schläfen wie eine alte Frau, die in geistiger Umnachtung lebt. Was ihr mißfiel. Nein, beschloß sie. Die Schachtel Pralinen ist, was sie ist. Nicht geheuer daran ist nur, wie Sweetie sie sieht. Die arme Sweetie. Ellen biß sich auf die Lippen, drückte die Handballen gegen die Augen, preßte sie in die Höhlen. Etwas Entsetzliches würde geschehen, etwas wirklich Entsetzliches. War schon passiert. Und entfaltete nun seine Wirkung. Es war am Ende von Fenster passiert, aber Sweetie wußte nicht, was für eine Rolle ihr künftig beschieden sein würde. Darin lag die Ursache für ihre Angst.
Die Schachtel war in seidenweiches weißes Papier gehüllt und mit einem purpurnen Samtband zugebunden, nicht mit einem simplen Stückchen Schnur. Sweetie zog an einem Ende. Die große Schleife öffnete sich beinahe lasziv.
Ellen rieb Daumen und Zeigefinger, spürte die Luft, spürte den Samt. Rot mußte er sein. Nicht purpurfarben. Rot. Warum? Rot, weil purpurrot zu bedeutungsschwanger war, das Band bedeutete aber nichts als sich selbst.
Sie sah zu, wie Sweetie den Deckel abnahm. In der Schachtel befanden sich zwei Lagen kleiner geriffelter Papierhüllen, in ordentlichen Reihen arrangiert. Pralinen waren keine darin. Sweetie nahm eine Hülle und untersuchte sie sorgfältig. Ellen schrieb:
Es waren auch nie welche darin gewesen.
Sie legte die geriffelte Hülle wieder an ihren Platz und betrachtete die adretten Reihen der Hüllen, die keine Pralinen enthielten. Sweetie schloß die Schachtel und erinnerte sich daran, wie Maxim gesagt hatte: »Sie hinterließen Zettel auf meinem Teller, neben meinem Glas, in der Schüssel auf dem Tisch. Darauf stand: Käse, Wein, Obst. Weil ich Schriftsteller war und fähig sein sollte, die leere Luft zu speisen und die Erinnerung an den Wein zu trinken. Sie hielten es für einen Scherz. Sie wußten es nicht, aber sie konnten sehr gut recht haben. Die Welt der Dinge zerbricht. Hör zu: Was, wenn das, was passiert, genau das ist, was nicht passiert? Zum Beispiel: Man schneidet eine Papierpuppe aus dem sie umgebenden Papier und erhält einen leeren Raum, die Umrißlinien der Puppe. Es paßt vollkommen - vollkommen. Was ist dann was, und was ist wirklich?«
»Ach, das ist Sophisterei. Ich hasse solches Gerede.«
»Nein. Sie sind nicht voneinander getrennt. Der Umriß gehört zu der Puppe. Es scheint nur so, als sei die Puppe von ihrem Platz gerissen worden. Zieh der Papierpuppe ihre Papierkleider an. Es spielt keine Rolle. Sie äfft nur ihr wahres Selbst nach; eine schäbige Imitation; verschandelt, ein statisches Echo. Verstehst du?«
Ellen legte den Stift weg und starrte an die Wand. Sie dachte an die schreckliche Vicki Salva. Die verschandelte Sweetie. Den Mord an Sweetie. Nein, Maxim behauptete ja, ein Mord sei unmöglich. Unmöglich. Dann dachte sie an Beverly Browns Poe-Geschichte. Jeder, der versuchte, Poe zu kopieren, würde Fingerabdrücke hinterlassen - geistige Fingerabdrücke, seitenweise. Das war unvermeidbar. Um wie Poe zu schreiben, mußte man Poe sein.
Kapitel 17/II
Ein Gesicht hinter der Milchglasscheibe der Tür.
Bevor sie sich den Schlüssel schnappen konnte, ging die Tür auf, und der Schatten hinter der Scheibe verwandelte sich in Melrose Plant.
»Hm, hm«, murmelte er, als er die Kette an ihrem Knöchel entdeckte.
Ungerührt bat sie ihn: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir den Schlüssel zu geben?« und deutete mit dem Kopf in Richtung des Aktenschranks. »Da oben.«
Er sah von ihr zum Aktenschrank und wieder zu ihr. Sie schauten sich ein paar Sekunden an. Mal sehen, wer zuerst wegschaute.
»Den Schlüssel, bitte.« Ihr Ton war so arrogant, als warte
sie seit Ewigkeiten, daß ihr Page, ihr Bote, ihr Schlosser, ihr Lakai Melrose Plant erschiene.
Er fand den Schlüssel, gab ihn ihr und wartete auf eine Erklärung. Als sie sich schließlich über das Schloß an ihrem Knöchel bückte, sagte sie: »Ich mußte ja wohl sehen, wie es sich anfühlt, oder?«
»Es?«
»Wie es sich für die Figur in meinem Buch angefühlt hat. Er war mal
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