Fremde Federn
fuhr sie fort, »ist der Blue Parrot absolut vorsintflutlich. Rustikal.«
Melrose hatte noch nie gehört, daß die Vorsintflut als rustikal bezeichnet wurde. »Diane, ganz Long Piddleton ist rustikal.«
»Nein, nein, nein«, sagte Trueblood. »>Urig< ist das rechte Wort.«
Diane verzog angewidert das Gesicht, drehte sich um und winkte in Richtung Dick Scroggs. Als er endlich von seinem wöchentlichen Klatschblatt aufschaute, beschrieb sie eine kreisförmige Bewegung mit dem Finger. Sie wollte eine Runde ausgeben. Bisweilen wunderte sich Melrose über Diane. Ihre Großzügigkeit stand in krassem Gegensatz zu der restlichen Person - kühl berechnend, egozentrisch, Spatzenhirn. Diane wirkte immer nur sehr gebildet, weil sie irgendein obskures beziehungsweise nur Kennern bekanntes Faktum zu beinahe jedem Thema unter der Sonne beizusteuern wußte. Als Dick Scroggs die Getränke brachte und Trueblood nach seinem Portemonnaie langte, schüttelte sie den glänzenden Schopf, zog ihren Koffer von Handtasche auf und das Scheckheft heraus. Sie trug nicht gern Bargeld mit sich herum. Sie bezahlte sogar Briefmarken mit Scheck.
Als die Transaktion erledigt war, hob sie das Glas, sagte »Prosit« und seufzte. »Ach, wenn doch endlich mal wieder etwas Amüsantes passierte.« Sie zog die Stirn kraus. »Was ist mit Vivians Graf ...« Angestrengt versuchte sie, sich an den Namen zu erinnern.
»Dracula«, sagte Trueblood.
»Er heißt Franco Giopinno«, sagte Melrose.
»Ist mir nicht zu Ohren gekommen, daß er Vivian besucht?«
»Man munkelt es«, sagte Trueblood, »aber ich kann es mir nicht vorstellen.«
Sie trank noch einen Schluck. »Wissen Sie, ich denke oft über Dracula nach .«
»Komisch«, sagte Trueblood. »Ich denke kaum jemals an den Burschen.«
»Gut, aber können Sie sich das vorstellen? Als Nahrung nur Blut?« Sie nahm ihr Glas. »Keine Aperitifs, keine Krabbencocktails als Vorspeise, sondern einen Eimer Blut als Hauptgang und keine Nachspeise. Wie absolut grauenhaft.«
»Er sieht aber ganz normal aus«, sagte Melrose. »Er ist sogar hübsch. Wirkt ein bißchen melancholisch.«
Trueblood staunte. »Sie haben mir nie erzählt, daß Sie ihn gesehen haben.«
»Ist ja auch schon ein Weilchen her. Ich habe ihn kennengelernt, als er mit Vivian zusammen in Stratford war.«
»Ich hoffe, Sie haben Ihr Kruzifix getragen«, sagte Trueblood.
»Aber ist sie nicht seit anno Tobak mit ihm verlobt? Da muß sie doch noch - nichts für ungut - blutjung gewesen sein«, witzelte Diane.
»Ja, ja. Ehrlich gesagt, ich wäre gar nicht überrascht, wenn Vivian ihn hierherbestellt hat, um ihm den Laufpaß zu geben. Hier wäre es leichter als dort, wo er von einem Haufen waschechter Italiener umgeben ist«, sagte Trueblood.
Wieder bedachte Diane ihn mit einem eigentümlichen Blick. »Was meinen Sie damit? Ach, auch einerlei.« Diane begab sich nicht gern auf unbekanntes Terrain. »Ist er reich?«
»Vermutlich. Er klingt jedenfalls reich.«
Dianes Porzellanstirn furchte sich, wodurch sie ein ganz passables Bild eines Menschen abgab, der nachdachte. »Aber wenn sie heiraten, müßten sie doch in - wo lebt er?«
»In Venedig«, sagte Melrose.
»Wenn Sie das Leben nennen wollen«, sagte True-blood und steckte sich eine leuchtend pinkfarbene Sobranie an.
»Er will bestimmt in Venedig wohnen und italienisch parlieren«, Dianes vollkommen geformte schwarze Augenbrauen trafen sich zu einem kleinen Runzeln.
»Ja, da haben Venezianer ihren Spaß dran«, sagte Trueblood.
»Aber vielleicht ist es unserer Vivian doch ein bißchen zu mühsam.« Sie trank einen Schluck. »Es wäre für jeden ganz schön mühsam.«
Jeden? dachte Melrose. Wer mochte das wohl sein?
Die Glocke über der Tür von Wrenn's Nest Books-hoppe bimmelte ärgerlich, als Melrose eintrat. Der Laden selbst war geradezu unangenehm putzig, freigelegte Balken, niedrige Türstürze mit albernen »Achten Sie auf Ihren Kopf«-Schildern, ein wackeliges Treppchen hoch zur Galerie. Weil Theo Wrenn Browne diversen Nebenerwerbszweigen nachging -der Leihbücherei, dem Handel mit Plüschtieren, die in einem großen Kasten neben der Treppe lagen, und nun sogar noch mit T-Shirts - war die Bude gerammelt voll. Und deshalb (behauptete Browne) brauche er ja auch mehr Platz, und den biete eben Ada Crisps Gebrauchtwarenladen.
Im Augenblick war der Herr mit der Nebenerwerbstätigkeit Buchausleihe beschäftigt. Er hatte es schon beinahe geschafft, Long Piddletons Einzimmerbücherei die
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