Fremde Federn
Kunden abzuluchsen. Weil er praktisch alle Titel, besonders die Bestseller, sofort nach Erscheinen bekam, florierte sein Geschäft, obwohl er zehn Pence pro Tag kassierte. Bei Büchern waren die Leute komisch, fand Melrose, wenn sie ein neues wirklich lesen wollten, pfiffen sie auf die Kosten.
Ein kleines Mädchen mit strohblondem Haar und niedlicher Piepsstimme brachte ein ausgeliehenes Buch zurück. Sie hätte das Herz selbst des niederträchtigsten Gauners zum Schmelzen gebracht. Theo Wrenn Brownes nicht. Er schimpfte sie aus, weil das Buch beschädigt war. Die Delinquentin behauptete, ihr kleiner Bruder Jon sei der Übeltäter. Jedenfalls war eine Seite zerschnitten, und Browne wollte Schadenersatz oder ihr die Leiherlaubnis entziehen. Und es natürlich ihrer Mutter erzählen.
Melrose war schon häufiger in eine solche geradezu Dickenssche Szene geraten, in eine Auseinandersetzung zwischen Browne und einem unglücklichen Kind. Wäre das Mädchen in Begleitung eines Elternteils, würde er nicht wagen, es so zu behandeln.
Nach einem kurzen Nicken in Richtung Melrose fuhr Browne fort, Sally - so hieß sie offenbar - zu peinigen. »Das ist das einzige Exemplar, das ich von Patrick habe, Sally. Und wie sollen wir das Problem nun lösen?«
Diese Art, Kindern Fragen zu stellen, die sie unmöglich beantworten können, verabscheute Melrose zutiefst.
»Das war Jon, er kann ja nichts dafür«, antwortete Sally, die sich in die Hand kniff, als bringe dieser Akt der Selbstkasteiung alles andere zum Verschwinden.
Warum ihr nicht die Tränen aus den Augen kuller-ten, wußte Melrose nicht. Vielleicht hielt sie sie mit aller Kraft zurück, um eine noch schlimmere Demütigung zu vermeiden.
»Na, dann kann Jon ja vielleicht vorbeikommen und mir auf meine Frage antworten.«
»Kann er nicht, er ist erst zwei.«
»Sally«, sagte Melrose.
Obwohl er leise gesprochen hatte, wich Sally zurück. Nun war sie von zwei Erwachsenen flankiert, doppelt in Gefahr. »Sally, ist Patrick eins von deinen Lieblingsbüchern?«
Sie war so durcheinander, daß sie keine Antwort auf diese Frage wußte. »Ich ... weiß nicht.«
Melrose nahm Theo Wrenn Browne das Buch aus der Hand. Er betrachtete den Umschlag. Patrick, das blaue Schwein. Als hätte Patrick einen Farbeimer umgestoßen, troff die leuchtendblaue Farbe nur so von ihm herab. Melrose blätterte die Seiten um und stieß anerkennende Laute aus. Da wurde Sally neugierig und, hoffte er, weniger ängstlich.
Browne indes wurde eindeutig ärgerlich. Er steckte sich die Pfeife mit einem gemeinen kleinen Stoß in den Mund und nahm sie dann wieder heraus. »Was möchten Sie, Mr. Plant? Ja wohl nicht das Schweinebuch, oder?«
»Bücher über Antiquitäten, Mr. Browne. Sally, vielleicht interessiert dich, daß sich ein Bekannter von mir blau angestrichen hat und dann durch die Straßen und um die ganzen Häuser in der Nachbarschaft gelaufen ist.«
Sally riß den Mund auf. Sie vergaß ihre prekäre Situation, kam näher und sagte: »Nein, das kann er doch nicht.«
»O doch. Er heißt Ashley Cripps. Kennst du ihn?«
Sally nestelte an einer hellblonden Locke und zog nachdenklich daran. »Nein. Warum hat er das gemacht?«
Nun fuhr Browne dazwischen: »Meine Bücher über Antiquitäten sind da durch den Bogengang. Ich habe eine sehr gute Auswahl.«
»Danke schön. Ashley Cripps wollte die Leute erschrecken.«
»Was hat er denn alles angestrichen?« fragte Sally, die sich nun sogar schon in Reichweite traute.
»Alles!«
Sally schnappte nach Luft.
»Er sah aber nicht halb so hübsch aus wie Patrick hier.« Melrose schlug das Buch zu. »Nun denn, Mr. Browne, wieviel?«
»Was? Was meinen Sie? Das Schweinebuch?«
»Ja.« Melrose zückte sein Portemonnaie.
»Aber das wollen Sie doch gar nicht. Es ist beschädigt.«
»Wieviel?«
Als Browne ihm den Preis genannt hatte, zog Melrose die Scheine aus der Geldbörse und gab Sally das Buch. Sie war vollkommen sprachlos und konnte die Lippen nur noch zu einem kleinen O spitzen, während sie abwechselnd Melrose und Patrick anschaute. Dann fing sie an zu kichern, schlug sich aber sofort
auf den Mund. Vergeblich. »Ich male Jon blau an!« Fröhlich glucksend rannte sie aus der Tür.
Theo Wrenn Browne, um seine tägliche Dosis Gemeinheit betrogen, zeigte mit einem knochigen Finger in den angrenzenden Raum. »Dort hinten, Mr. Plant. Wie schon gesagt, durch den Türbogen.«
Es gab drei Regale mit Büchern über verschiedene Themen - Glas, Silber,
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