Fremde Federn
Gerichtsmediziner hatte zur allgemeinen Überraschung herausgefunden, daß Dorcas Reese nicht schwanger war!
»Nicht schwanger? Wer hat denn behauptet, daß sie es war?« hatte Max gefragt.
Offenbar hatte Dorcas es sowohl einer Freundin als auch einer Tante erzählt. Letztere putzte bei Linus Parker und hatte vor der Polizei ausgesagt, daß Dorcas es ihr zwar mitgeteilt, nicht aber den Namen des Vaters genannt hatte. Nach Auskunft der Tante war sie ob ihres Zustandes ganz zuversichtlich, ja, sogar richtig zufrieden gewesen. Und überzeugt, daß sie noch diesen Monat heiraten werde. Madeline Reese hatte es der Polizei nicht früher erzählt, weil sie die Eltern nicht noch zusätzlich belasten wollte und meinte, daß es doch nichts mehr genützt hätte.
Chief Inspector Bannen hatte zugegeben, daß er mit dieser Entdeckung noch nichts Rechtes anzufangen wisse. Womöglich hatte Dorcas die Geschichte erzählt, um den Mann dazu zu bringen, sie zu heiraten. Aber im Hause Owen hatte sie sich niemandem anvertraut. Auch nicht Annie Suggins. Auf die entsprechende Frage hatte die Köchin nämlich geantwortet, sie könne sich absolut nicht vorstellen, daß Dorcas, unreif wie sie war, angesichts einer Schwangerschaft »zuversichtlich« gewesen sei.
Als Melrose sich das nun alles durch den Kopf gehen ließ, wußte er, daß er jeglicher Hoffnung auf Schlaf entsagen mußte. Besonders schwierig war es gewesen, Jury die Neuigkeiten über Jenny zu erzählen, aber Jury klang, als habe er es kommen sehen, wenn auch nicht so dicke.
Melrose stand seufzend auf und zog sich an. Aber als er nach unten kam, hörte er kein freundliches Gesumme und Gebrumme aus der Küche wie am Morgen zuvor. Sie war kalt und verlassen, doch die Fen-ster gaben den Blick frei auf einen noch so jungfräulichen Tag, daß man meinen konnte, die ganze Landschaft erwache in diesem Moment zum Leben. Er suchte sich den Tee, brühte sich eine Tasse und ging hinaus.
Er war nicht der einzige Frühaufsteher. Dreißig Meter vom Weg entfernt standen ein großer Mann - aha, Jack Price -, zwei weitere Männer, Farmer oder Landarbeiter, und zwei riesige Ackergäule. In dem noch dichten Bodennebel wirkte es, als schwebten dort geisterhafte Gestalten von Fenmännern. Melrose war froh, daß er Gummistiefel angezogen hatte, so konnte er über den Torfboden zu ihnen laufen. Was um Himmels willen machten sie hier? Pflügten sie etwa zu dieser unchristlichen Zeit? Jack Price redete mit Händen und Füßen auf einen Farmer ein. Das Pferdegespann hinter ihnen war so kräftig, daß es die Hölle hätte unterpflügen können. Melrose stapfte zu Price hinüber.
»Morgen«, sagte er. Gott allein wußte, daß es Morgen war, Viertel vor sieben und hier schon diese Versammlung. Für die Farmer entsprach es vermutlich der Mittagszeit. Melrose schüttelte sich. Was für ein Leben! Sie aßen wahrscheinlich um sechzehn Uhr zu Abend.
Jack Price, in seiner üblichen Kluft, Kappe, Regenjacke und Gummistiefel, nickte ihm zu und sagte, ohne die erloschene Zigarre aus dem Mund zu nehmen: »Beinahe wäre der Pflug zerbrochen.« Dabei zeigte er auf einen der Männer, der sich an der Gebißstange im Maul des einen Pferdes zu schaffen machte. »Eine Mooreiche. Schon mal eine gesehen?«
»Weder gesehen noch davon gehört. Was ist das?«
»Ein Baum.« Jack warf den Zigarrenstummel weg. »Ein besonders großer, steckt womöglich fünfundzwanzig Meter tief im Boden. Ist in dem Torf begraben und konserviert worden und bestimmt über viertausend Jahre alt. Das hier ist vielleicht nur ein Stück. Herrliches Feuerholz. Aah -«
Melrose sah, daß die Gäule und die Männer den Baumstamm beziehungsweise -stumpf mit einem mächtigen Ruck an die Oberfläche befördert hatten. »Lieber Himmel, der ist ja so dick wie ein Mammutbaum.«
»Ich liebe dieses Holz. Jetzt ist es weich und muß trocknen, aber die größeren Stücke benutze ich gern für meine Arbeit. Als man die Fens trockengelegt hat, haben hier die Sumpfeichenstämme rumgelegen wie Streichhölzer. Im neunzehnten Jahrhundert hat man die Geweihe von ausgestorbenem Rotwild und Skelette von Rundkopfdelphinen gefunden. Bei Flut überschwemmte das Wasser das Land wochenlang. Parker erzählt immer gern, daß sein Großvater die Stiefel stets neben dem Bett stehen hatte, weil der Boden jederzeit ein paar Zentimeter unter Wasser stehen konnte. Große Teile dieser Region liegen immer noch unter dem Meeresspiegel.« Jack nahm eine neue Zigarre aus der Tasche,
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