Fremde Federn
...«
Das Lied über ein blondes Mädchen im Central Park war wunderschön, aber traurig; der unbekannte Gentleman sah das Mädchen, das er dort getroffen hatte, nie wieder. Wenn Fritzi sich das Lied ein zweites Mal anhörte, legte sich ein Schleier über ihre Augen. Nach dem siebten oder achten Mal rollten ihr dicke Tränen über die Wangen.
40. NEW YORKER MUSIK
Harry Poland liebte seine neu erlernte Sprache. Er wußte, daß er bei weitem noch kein gutes Amerikanisch sprach, aber er redete, so gut er konnte. Für ihn war das Amerikanische wie ein riesiges Tablett mit köstlichen Häppchen, von denen jedes einzelne einen besonderen, dem speziellen Augenblick entsprechenden Geschmack besaß. Ein herrliches Wort, das ihm mundete, war »piekfein«. Er trug gern piekfeine Kleider und konnte sie sich inzwischen auch leisten. Auch wenn er in der Provinz noch kein Begriff war, im kleinen, eingeschworenen Kreis der New Yorker Musikverleger galt der Name Harry Poland viel.
An einem Frühlingstag des Jahres 1910, als Fritzi einen ihrer ersten Filme drehte, machte er sich piekfein für einen nachmittäglichen Besuch bei seiner Frau. Er entschied sich für einen dreiteiligen Einreiher im englischen Stil, die schmale Hose mit scharfer Bügelfalte, für ein blauweiß gestreiftes Hemd mit Klappkragen, eine blaue Krawatte, einen flotten Bowlerhut, graue Gamaschen und Spazierstock.
Sein Ziel war das Dorf Rye, eine der schattigen Straßen zwischen der Boston Post Road und der Meerenge von Long Island. Er parkte sein brandneues schwarzes Modell T auf einem kiesbestreuten Platz vor dem Pflegeheim.
Noch nie hatte er hier an diesem traurigen und sterilen Ort, an dem Alte und Gebrechliche in ihren Stühlen saßen und tonlos vor sich hin brabbelten, ein frohes Gefühl aufgebracht. Aber er gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Als der große, lebensstrotzende Dreißigjährige auf das Gebäude zuschritt, machte er einen erfolgreichen und glücklichen Eindruck.
Eine schwache, warme Brise wehte an diesem Aprilnachmittag vom Meer herüber. Ein Pfleger schob Flavia im Rollstuhl nach draußen, wo sich Harry mit ihr unter eine knospende Platane setzte und ihre Hand hielt, während sie ihn mit leerem Blick anstarrte und im Dunkel ihres Geistes versuchte, ihn zu erkennen. Ihr spärliches weißes Haar stand nach allen Seiten ab. Auf Anraten des Arztes hatte Harry sie im vergangenen Winter in das Pflegeheim gebracht. Er bemühte sich, fröhlich zu wirken, als er ihr lächelnd alle möglichen Neuigkeiten erzählte und gleichzeitig unablässig ihre Hand streichelte.
»Bernstein hofft, in den nächsten paar Monaten mit A Girl in Central Park die Millionengrenze zu erreichen. Die Marketingabteilung der Band vertreibt außerdem eine symphonische Fassung. Auch Blue Evening verkauft sich gut, achtzigtausend Exemplare. Und rate mal, wen ich morgen treffe. Ich bin schon furchtbar aufgeregt. Einen der größten Produzenten in New York, Ziegfeld. Er hat mich angerufen. Er will im Laufe des Jahres noch eine neue Follies herausbringen.«
Jede Neuigkeit wurde mit dem gleichen abwesenden, etwas verwunderten Lächeln aufgenommen, das ihm ins Herz schnitt. Ein feiner silbriger Speichelfaden lief ihr aus dem Mundwinkel und hinterließ einen feuchten Fleck auf ihrem Kleid. Das Pflegepersonal erinnerte ihn immer wieder daran, daß sich ihr Zustand zunehmend verschlechtert und sie besonders aufmerksamer Pflege bedürfe. Er wußte, daß sie auf zusätzliche Trinkgelder aus waren, aber er bezahlte, ohne zu murren.
Als die Schatten länger und die Luft kühler wurde, winkte er einen der stiernackigen Männer in Weiß herbei, erhob sich und drückte Flavia einen Kuß auf die Stirn. »Auf Wiedersehen, mein liebes Mädchen. Wir sehen uns nächste Woche wieder.« Und die Woche danach und so immer weiter, solange sie leben würde. Er verdankte Flavia so viel, daß er sie niemals verlassen oder sich scheiden lassen würde, auch wenn er häufig an eine andere Frau dachte. Sie war es, für die er das Lied A Girl in Central Park geschrieben hatte.
Harry wußte nicht, was aus Pauls Cousine geworden war. Er las das Programm aller Stücke, die am Broadway aufgeführt wurden, aber ihr Name war noch nie aufgetaucht. Vielleicht hatte sie die Stadt verlassen.
Er blickte seiner Frau nach, die vom Pfleger ins Haus geschoben wurde. Er kurbelte sein Modell T an und fuhr über holprige, staubige Straßen nach Port Chester in ein ausgezeichnetes Gasthaus, in dem er und
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