Fremde Federn
Flavia in besseren Tagen oft eingekehrt waren. Nachdem er eine Stunde mit köstlichem Essen und Wein zugebracht hatte, steuerte er auf die King Street zu, die Grenze zwischen den Staaten New York und Connecticut. Die Landschaft war hügelig und saftig grün.
Jenseits der Straße, in Connecticut, bog er in eine Gasse ein und parkte vor einem gepflegten zweistöckigen Farmhaus zwischen einem sportlichen Zweispänner und einem großen gelben Reo.
Eine gutaussehende Frau in einem geschmackvollen schwarzen Kleid begrüßte ihn fröhlich: »Hallo, Harry, schön, Sie wieder mal zu sehen. Wie geht’s?«
»Danke, gut, Belle.« Er legte Bowler und Spazierstock auf einen Marmortisch. Mrs. Belle Steckel stammte aus einer angesehenen Greenwicher Familie. Sie war in jungen Jahren auf die schiefe Bahn geraten, hatte sich aber wieder gefangen und einige Jahre später dieses vornehme Haus eröffnet, das auch von den Behörden gut gelitten war. Als Harry zum ersten Mal hierherkam, war er sich wie der schlimmste Gauner und Betrüger vorgekommen. Er suchte Rat bei Mrs. Steckel, die sehr viel Einfühlungsvermögen besaß. Sie erinnerte ihn daran, daß es nicht gut sei, ein Einsiedlerleben zu führen. Ein gelegentlicher Besuch würde niemandem weh tun, Flavia schon gar nicht. »Und ich wette, wenn sie es wüßte, würde sie es verstehen.«
»Martha ist frei und erwartet Sie«, sagte Mrs. Steckel. Harry dankte ihr, bezahlte und stieg die Treppe hinauf. Noch bevor er Marthas Tür erreichte, legte Mrs. Steckel eine Rolle in das Pianola des Salons ein. The Cherry Blossom Man from Little Old Japan, sein neuestes Lied. Lächelnd klopfte Harry an die Tür.
»Hallo, Martha«, grüßte er mit einem scheuen Lächeln.
»Hallo, Harry, ich freue mich, daß du gekommen bist.« Ihr Morgenmantel ging auf, sein Blick fiel auf ihren nackten Körper. Sie gab ihm einen zärtlichen Klaps auf die Wange. Martha war klein, etwas pummelig und nicht sehr gebildet. Aber sie hatte weiche, runde Arme, und sie verstand, warum er sie hin und wieder besuchen mußte. Eine Stunde mit ihr gab ihm die Kraft, sein Leben ohne Bedauern und Selbstmitleid weiterzuleben. Dabei hatte er ein tiefes, beschämendes Geheimnis. Manchmal, wenn die Leidenschaft mit Martha ihren Höhepunkt erreichte, stellte er sich vor, sie sei Fritzi Crown.
Harry Poland verbrachte die Nacht im Haus in Port Chester, wo er mit Flavia gewohnt hatte. Jetzt war es ein trostloser, geisterhafter Ort. Fast alle Möbel waren mit großen Tüchern verhängt. Ein staubiger Geruch hing in der Luft.
Harry hatte schon erwartet, daß er vor Aufregung über das Treffen mit Ziegfeld nicht schlafen würde, und so war es auch. Nachdem er sich bis in die frühen Morgenstunden ruhelos hin und her gewälzt hatte, sprang er eine Stunde vor Sonnenaufgang aus dem Bett, trank eine halbe Kanne Kaffee und machte sich mit seinem Ford über jämmerliche Straßen auf den Weg nach Manhattan. Die Fahrt, etwa zwanzig Meilen, dauerte fast drei Stunden.
Harry arbeitete immer noch freiberuflich, sein Büro lag im Mul-doon Building in der Achtundzwanzigsten Straße West, im Zentrum des New Yorker Musikgeschäftes. Irgendwann hatten sich alle Großen der Branche in den farblosen, eintönigen Gebäuden dieser Straße niedergelassen. Aus allen Büros, die auf Harrys Etage lagen, drang Musik, die er jedoch als Lärm bezeichnete, denn sobald aus einem Dutzend Räume verschiedene Tonarten, verschiedene Tempi und verschiedene Stimmen erklangen, konnte man nur noch von Kako-phonie sprechen.
Da Harry häufig in der Stadt war, war er Dauergast im Hotel Mandrake in der Fünfundvierzigsten Straße West, wo er zwei Zimmer gemietet hatte. Dort rasierte er sich jetzt und zog einen sauberen Anzug, ein frisches Hemd und eine Krawatte an. Gepudert und mit ein paar Tropfen Eau de Cologne, erschien er bereits um zehn Uhr, zwanzig Minuten vor dem Termin, im Büro von Florenz Ziegfeld.
Ziegfeld ließ ihn bis halb elf warten. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, begrüßte der Produzent Harry schließlich. Ziegfeld war eine beeindruckende Erscheinung, etwas über vierzig, groß, flott und geschmackvoll gekleidet. Manche fanden, sein gutes Aussehen und seine schrägen Augenbrauen hätten etwas Teuflisches. Daß er derzeit mit der berühmten Soubrette aus Warschau und Paris, Anna Held, verheiratet war, tat seinem Eifer als berüchtigter Damenfreund keinen Abbruch. Verheiratet oder unverheiratet, er nahm sich Frauen wie andere Brezeln. Im übrigen
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