Fremde Federn
späte Siesta unter Schirmen oder in Zelten aus Decken und Kistenbrettern. Ganze Dörfer lagerten auf den Dächern dieser Züge. Die als wertvoller erachteten Pferde waren unter den Dächern der Waggons untergebracht.
Ein jäher Pfiff der Lokomotive machte dem Kochen schlagartig ein Ende und weckte die Schlafenden. Der Lokomotivführer hatte das Flugzeug im schräg einfallenden Licht des späten Nachmittags gesichtet. Carl standen die Haare zu Berge, wie immer in Augenblicken der Gefahr.
Die Männer dort unten griffen nach ihren Gewehren und stellten sich breitbeinig auf die schlingernden Güterwaggons. Schon im nächsten Augenblick war die alte, von Holzfeuer angetriebene Lokomotive unter ihm. Der Lokführer gab das Pfeifsignal, kurze Stöße, die wie Spott und Hohn klangen. Dutzende von Villistas feuerten ihre Gewehre ab, und Carl fluchte, weil er die Maschine nicht früher hochgezogen hatte. Der Anblick der langen Kriegszüge hatte ihn schon immer fasziniert.
Die Villistas schwangen die Fäuste und stießen Flüche aus, die Carl nicht hören konnte. Eine Kugel prallte an einem der Radlager ab. Eine weitere bohrte sich durch seinen linken Flügel, aber das hatte nichts zu bedeuten.
Er flog die Bleriot in einem großen Bogen Richtung Süden. Ein paar Gewehre feuerten weiter, doch die Kugeln erreichten ihn nicht. Seine Nerven entspannten sich. Er hatte erkundet, wozu er ausgeschickt worden war, und damit fünfzig Dollar verdient. Carl hatte sich in die jahrhundertealte Legion namenloser Männer eingereiht, die bereit waren, für diejenigen zu kämpfen - oder, wie in seinem Fall, zu fliegen -, die sie dafür bezahlten.
Sobald Carl gelandet war, gab er die Position des herannahenden Zuges weiter, und die Kommandanten erteilten die Marschbefehle. Die Artillerieeinheiten spannten Maulesel an, die im Schutz der Dämmerung die Kanonen Richtung Süden schaffen sollten. Ganze Züge voller schmutziger Soldaten stampften in der Sonne durch Staubwolken in eine Richtung. Die Lokomotiven wurden auf Hochtouren geheizt, Flugzeuge und Autos aufgeladen und festgezurrt.
Carl polierte seinen Revolver. Aus der Küche drang metallisches Kratzen; Bert säuberte den schwarzen Herd. Zum Abendessen hatte er Schweinefleisch zu Schuhsohlen gebraten.
René trat mit einer Zeitung aus Mexiko City in den Waggon. Er warf sie Carl in den Schoß.
»Mehr über Sarajewo. Da sieht es finster aus.«
»Ich versteh’ im Grunde gar nichts.«
»Wer versteht schon was vom Balkan? Es gibt Ärger, soviel ist klar. Das Pulverfaß kann jederzeit explodieren. Der Vorfall ist vielleicht das brennende Streichholz.«
René erklärte Carl, daß das Opfer des Attentats, Erzherzog Franz Ferdinand, der Neffe des Kaisers Franz Josef von Österreich-Ungarn, der Thronfolger der Doppelmonarchie gewesen sei. Die Bevölkerung der vom Erzherzog besuchten Provinz Bosnien-Herzegowina, ihrerseits Slawen, haßte die Österreicher, von denen sie regiert wurde.
»Ferdinand, dieser blaublütige Dummkopf, hatte sich trotz aller Gerüchte und Morddrohungen zu diesem Besuch entschlossen. In Sarajewo hat es keine Sicherheitsvorkehrungen gegeben. Schon während der Fahrt ist auf offener Straße eine Bombe hochgegangen. Der Erzherzog bestand aber darauf weiterzufahren. Dann ist sein Fahrer falsch abgebogen. Während er wendete, trat ein verrückter junger Mann, dieser Princip, aus der Menge heraus an den Wagen und schoß aus nächster Nähe. Die Erzherzogin wurde von einer zweiten Kugel getroffen, auch sie starb. Die Österreicher sind außer sich. Es wird Krieg geben.«
»Meinst du wirklich?«
»Ohne Zweifel. Die Deutschen sind mit Österreich verbündet, und sie schmieden seit Jahren Kriegspläne. In meinem Heimatland werden bald Flieger gebraucht. Die französische Armee hat schon vor einiger Zeit ein Luftwaffenkorps zusammengestellt. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Ich befürchte, in diesem Krieg hier sind wir auf der Verliererseite.« Er sprach aus, was Carl seit längerem vermutete. »Wie hätte ich das wissen können?« meinte René mit einem Achselzucken. Er zog seine Taschenuhr heraus, schaute mit zusammengekniffenen Augen durch den Rauch seiner zwischen den Lippen hängenden Zigarette. »Der Engländer ist fast schon eine Stunde überfällig.« Harvard war mit dem vollbeladenen MartinBomber unterwegs.
Zehn Minuten später rief Tom Long durch ein offenes Fenster: »Er kommt.«
Sie rannten nach draußen, um Harvard bei der Landung zuzuschauen. Das
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