Fremde Federn
Gedanken beschäftigte sie sich mit den anderen acht Fahrgästen in ihrem Waggon. War der rotgesichtige Mann ein Alteisenhändler oder Knopfverkäufer auf dem Weg nach Hause zur Familie? Die junge Frau mit den beiden vorlauten Jungen, war sie Witwe? Und der braungebrannte Herr in dem grünkarierten Anzug auf der anderen Seite? Er hatte große, kräftige Hände; war er vielleicht Trapezkünstler im Zirkus?
Oder ein stellungsloser Musiker? Sie bemerkte die Mundharmonika in seiner Brusttasche.
Als der Zug Toledo verließ, fing es an zu schneien. Aus dem Wind wurde ein Sturm, längst hatte der Express seine Geschwindigkeit gedrosselt. Offenbar hatte es weiter östlich bereits heftig geschneit. Als die Lokomotive eine langgestreckte Biegung nahm, sah Fritzi, wie sich die Scheinwerfer in den wütenden Schneesturm bohrten. Links und rechts der Gleise türmten sich Schneeverwehungen auf.
Eine halbe Stunde später - die Schneeverwehungen wurden gewaltiger - wurde der Zug noch langsamer, rollte auf ein Nebengleis und blieb stehen. Der Schaffner ging durch die Wagen.
»Die Gleise sind blockiert. Wir müssen auf einen Schneepflug warten, der uns befreit. Es ist übrigens fünf Minuten nach Mitternacht. Fröhliche Weihnachten allerseits!«
Er schneuzte sich in sein Taschentuch und trottete weiter. Angst und Einsamkeit stürzten auf Fritzi ein.
Ellen Terry schalt sie:
Reiß dich zusammen, Mädchen! Feigheit steht dir nicht. Du hast ein großes Abenteuer vor dir, für das du dich aus freien Stücken entschieden hast, wenn ich dich daran erinnern darf.
Auf der anderen Seite des Gangs raschelte der sonnenverbrannte Mann mit den Seiten eines Chicago American. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Fritzi, »können Sie Mundharmonika spielen?«
»Ein bißchen«, antwortete er mit fremdem Akzent.
»Kennen Sie One-Horse Open Sleigh?«
Er spielte die ersten zwölf Noten, »Jingle Bells.«
»Als ich klein war, habe ich das Lied nur One-Horse Open Sleigh genannt. Ich finde es schrecklich, an Weihnachten wie eine Trauergemeinde auf einer Beerdigung herumzusitzen. Würden Sie es spielen?«
»Wenn Sie wollen«, sagte er lächelnd, wobei er seine weißen Zähne entblößte. Er tippte mit dem Finger an seinen weichen Hut. »Ich heiße Aristopoulous. Christos Aristopoulous. Bin seit fünf Jahren in diesem Land.«
»Und? Mögen Sie es?«
»Kann man sagen.«
»Das freut mich.«
»Ich fahre nach New York, meine Liebste abzuholen. Sie heißt Athena und kommt mit einem großen Schiff von Piräus. Wir heiraten.«
»Gratuliere! Ich hoffe, Sie werden sehr glücklich miteinander. Spielen Sie jetzt?«
Er spielte, und sie sang mit. Die vorlauten kleinen Jungen kamen angerannt und sangen ebenfalls mit. Schon nach wenigen Takten fiel der ganze Waggon ein.
Eine halbe Stunde lang sangen sie ein Weihnachtslied nach dem anderen, nur der Knopfverkäufer, der mit verschränkten Armen und mißmutigem Gesichtsausdruck dasaß, sang nicht mit. Die Tür des Speisewagens öffnete sich, und Kaffee und Kakao wurden kostenlos ausgeschenkt. Fritzi machte ein kurzes Nickerchen, im stillen dankbar für ihren neuen Mantel. Um fünf Uhr morgens etwa ratterte eine Lokomotive, die einen Pflug auf Schienen vor sich herschob, vom Westen heran und bahnte ihnen den Weg.
Über den weißen Feldern erhob sich glitzernd die goldene Sonne. Als Fritzi aus dem Fenster sah, fiel ihr Blick auf eine endlose Weite, die sich bis zum Horizont erstreckte. Sie hatte diese Nacht überlebt, hatte die Schwermut abgeschüttelt. Jetzt konnte sie es mit dem Schlimmsten in New York aufnehmen und es bezwingen. So dachte sie, ahnungslos und unerfahren, an diesem frühen Weihnachtsmorgen des Jahres 1906.
Und sag mir nicht, es sei Aberglaube . Shakespeare, Das Wintermärchen
Wir werden expandieren, und Sie werden sehen, daß die Firma in ungeheurem Tempo und gewaltigen Ausmaßen wachsen wird. Was mir vorschwebt, ist das Auto für alle.
TEIL ZWEI - Kämpfen und Ringen
Henry Ford
11. ALLEIN IN NEW YORK
Im Frühjahr 1908 kündigten die New Yorker Zeitungen ein neues Gastspiel einer der größten Bühnenschauspielerinnen, Mrs. Patrick Campbell, an. Sie hatte ihre amerikanische Tournee im vergangenen Herbst im Lyric Theater begonnen, um von dort mit ihrem Ensemble in einem Privatzug sechsundzwanzig Wochen lang kreuz und quer durch das Land zu reisen und auf unzähligen Bühnen aufzutreten. »Die unsterbliche Stella« würde ihre Tournee mit einer Abschiedswoche am Lyric beenden, nach Hedda
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