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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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brauche ich sie. Danke.«
    Als sie ihre Mutter umarmte, spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen; sie schluckte sie hinunter. Jedesmal, wenn die Angst vor der unsicheren Zukunft sie dazu verleiten wollte, wieder auszupak-ken, mußte sie sich nur das Gesicht Joe Crowns vor Augen rufen, als er sich auf dem Brauereifest von ihr abgewandt hatte. Das genügte, um ihr den Rücken zu stärken.
    Am Bahnhof verabschiedete sich Fritzi von Carl und ihrer Mutter inmitten von Reisenden, die auf dem Weg zu ihrem Urlaubsziel waren. Sie trug den neuen braunen Mantel und hatte ein Tuch über ihren Hut gebunden, um die Ohren warm zu halten. Unter einen Arm hatte sie sich eine runde Blechdose mit Ilsas stern-, herz- und ringförmigen Pfefferkuchen geklemmt. Ein eiskalter Wind pfiff durch das Bahnhofsgebäude und zerstob die unter den Waggons aufsteigenden Dampfwolken. Carl trug Fritzis Schrankkoffer und Ledertasche zum Gepäckwagen auf den Bahnsteig hinaus. »Du mußt mich sofort wissen lassen, daß du gut angekommen bist. Ich übernehme die Kosten für das Telegramm.«
    »Wenn du darauf bestehst, Mama.«
    »Ja, sonst kann ich wochenlang nicht schlafen. Oh! Hutnadeln! Hast du genügend Hutnadeln? Für den Fall, daß man dich auf der Straße belästigen sollte?«
    Fritzi lachte. »Ja, ich habe etliche eingepackt.«
    »Dann hab’ ich noch ein Letztes für dich.« Ilsa nahm einen verschlossenen weißen Umschlag aus ihrer Handtasche und reichte ihn ihrer Tochter. Fritzi bewegte den Umschlag mit ihrer behandschuhten Hand.
    »Was ist das?«
    »Einhundert Dollar.«
    Fritzi schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht annehmen. Ich werde es in New York schaffen, ohne daß ich auch nur einen Cent von Papas Geld annehme.«
    »Es ist von mir«, protestierte Ilsa.
    »Nimm es zurück, Mama.« Fritzi hielt ihr den Umschlag hin. »Wenn du’s nicht zurücknimmst, stecke ich es in Carls Tasche, wenn er’s nicht merkt. Oder ich verschenke es.«
    »Oh, bitte, Liebchen - ich bitte dich, deinen Vater nicht so zu hassen.«
    »Ich hasse ihn ja gar nicht. Aber ich werde ihm beweisen, daß ich alt und mutig genug bin, es in New York auch unter den widrigsten Umständen zu schaffen.« Ihre Worte waren nichts weiter als gespielte Tapferkeit. Mit hundert Dollar mehr hätte sie viel länger durchhalten können. Aber ihr Zorn und ihr Groll verboten ihr, das Geld anzunehmen.
    Carl kam zurück. Sie umarmten und küßten sich und sagten einander Lebewohl. Im Innern des Eisenbahnwagens preßte Fritzi die Stirn gegen das kalte Fensterglas und winkte mit dem Taschentuch, als der Empire State Express langsam aus dem Bahnhof rollte.
    Ilsa wurde vom Dampf der Lokomotive verschluckt. Der kräftige Carl schwenkte die Mütze und lief neben dem rollenden Zug her, bis er nicht mehr mithalten konnte. Der Express wandte sich nach Süden, um die untere Spitze des Michigan-Sees zu umfahren. Schon breitete sich winterliche Dunkelheit über dem Land aus.
    Fritzi war an Heiligabend noch nie allein gewesen. Selbst in der Theatertruppe hatte sie sich in der trunkenen Gesellschaft der anderen Schauspieler befunden. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Aber es war nicht leicht.
    Dorfbahnhöfe und Hauptstraßen rollten, hell erleuchtet wie Teile von Spielzeugstädten, an ihr vorbei. An einem Übergang winkten drei Kinder, die einen Christbaum hinter sich herschleiften, dem vorbeifahrenden Zug zu. Etwas später erhaschte Fritzi durch ein Fenster einen Blick auf eine Familie, die sich im Wohnzimmer um eine Orgel versammelt hatte. Sie wandte den Kopf ab.
    Der Eisenbahnschaffner trat neben ihren Sitzplatz. »Die Fahrkarte, bitte, Ma’am.« Der rundliche, gutmütige Mann schien genausowenig erfreut, am Weihnachtsabend zu arbeiten, wie sie es war, zu reisen. »New York City«, sagte er, während er die Fahrkarte zwickte. »Wohnen Sie dort?«
    »Das werde ich, wenn ich dort angekommen bin«, antwortete Fritzi mit einem Lächeln.
    »Der Speisewagen befindet sich im vorderen Teil. Heute haben Sie die Wahl zwischen gebratenem Truthahn und gebratener Gans.«
    »Danke schön.« Sie hatte nicht die Absicht, ihr Geld für eine teure Mahlzeit zu verschwenden. Ihr genügten die Pfefferkuchen, die sie in der Blechdose mitgenommen hatte.
    Unendliche winterliche Dunkelheit umhüllte den Zug. Wie ein trauriger Schrei hing sein Pfeifsignal über öden Feldern. Sie versuchte einen der Artikel im Ladies’ Home Journal über das Frauenwahlrecht zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. In

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