Fremde Federn
Gabler, der Elektra von Sophokles und der Hauptrolle in Pineros Die zweite Mrs. Tanqueray. Letzteres war eben das Stück, das 1893 im West End zu einem Skandal geführt und sie quasi über Nacht zu einem Star gemacht hatte.
Fritzi hatte die meisten großen Bühnenschauspielerinnen gesehen, angefangen von der jungen Ethel Barrymore bis zur alten, beinamputierten Sarah Bernhardt - und natürlich zu ihrem Idol Ellen Terry. Aber im vergangenen November war sie zu spät an die Theaterkasse gekommen; sämtliche Vorstellungen waren ausverkauft. Sie schwor sich, die große Dame diesmal zu sehen, selbst wenn sie hungern müßte, um die Karte bezahlen zu können.
Und genau das sollte eintreten.
Um zehn Uhr an einem Montagmorgen im Mai stieg Fritzi die Stufen eines Gebäudes in der Sechzehnten Straße unweit von Union Square West hinauf; eine Anzeige im Dramatic Mirror hatte dort ein Vorsprechen angekündigt. Ihr Ziel war das Büro eines der Agenten, die es in dieser Gegend zuhauf gab. Sie mochte Agenten nicht; die meisten waren käuflich und neigten dazu, sich bei Frauen allerlei Freiheiten herauszunehmen. Jeder Agent wartete mit demselben Fragenkatalog auf: »Welche Rollen gespielt? Bühnenkleidung vorhanden? Wie steht’s mit Singen und Tanzen? Wie schnell können Texte gelernt werden?« Wenn sich ein Produzent für einen entschied, kas-sierte der Agent zwischen einem Drittel und der Hälfte der ersten Wochengage und tat so, als erwiese er einem einen Riesengefallen.
Bis jetzt hatten ihr die Agenten überhaupt keinen Gefallen getan; sie hatte für unzählige Rollen vorgesprochen, ohne eine einzige zu bekommen. Bei der Agentur Mehlman sprach sie an diesem Morgen für ein neues Drama von Edward Sheldon namens Die gute Nell vor, das in Kürze auf die Bühne kommen sollte. Elf weitere Schauspielerinnen bewarben sich um dieselbe kleine Rolle mit ganzen achtzehn Textzeilen. Mehlman machte sich nicht einmal die Mühe, sie einzeln und nacheinander ins Zimmer zu rufen; sie standen dichtgedrängt in seinem Studio. Die frechste Vorstellung lieferte eine Rothaarige mit melonengroßen Brüsten. Mehlman strahlte von einem Ohr zum anderen, als die Rothaarige zwei Schritte von seinem Stuhl entfernt ihre Rolle mimte und sich dabei weit nach vorne beugte, damit er ihre Vorzüge auch wirklich in Augenschein nehmen konnte. Nach eineinhalb Stunden forderte Mehlman - welche Überraschung! - die Rothaarige auf zu bleiben; alle anderen waren entlassen.
Am Nachmittag sollte sie noch einmal vorsprechen, vielleicht hatte sie dabei mehr Glück. Wenigstens hatte der Agent sie angerufen und sie zu sich gebeten.
Aber trotz allem fühlte sie sich entmutigt. Alles, was sie nach einem Jahr größter Anstrengung vorweisen konnte, war die Rolle einer stummen Statistin in einem Flop mit dem Titel Die Braut des Mongolen für ganze fünfzig Cent pro Abend. Nach einer Woche war das Stück abgesetzt worden. Nicht einmal die unterste Stufe der Schauspielerleiter hatte sie erklommen, nicht ein einziges Mal war sie als Kleindarstellerin aufgetreten. Als solche durfte man wenigstens ein paar Zeilen sprechen.
Seit sechzehn Monaten lebte Fritzi jetzt schon in New York und hatte sich größtenteils als Kellnerin in einem gutbesuchten Restaurant namens Dutch Mill über Wasser gehalten. Sie mochte den Besitzer, der nichts dagegen hatte, wenn sie sich hin und wieder freinahm, um für eine Rolle vorzusprechen. Sie war kräftig genug, lange Arbeitszeiten durchzustehen und schwere Tabletts zu tragen. Nur die alberne holländische Trachtenhaube, die sie tragen mußte, ebenso wie die Holzpantinen, die ihr Blasen an den Füßen machten, gefielen ihr gar nicht.
Leider war der Besitzer des Dutch Mill schon ein älterer Herr. Im März nun hatte er beschlossen, sich zur Ruhe zu setzen und zu seiner Tochter nach Virginia zu ziehen. Der neue Besitzer verwandelte das Restaurant im Handumdrehen in ein Fünf-Cent-Theater oder Nik-kelodeon - ein Nickel entsprach fünf Cent -, wie die verabscheuungswerten Etablissements genannt wurden. Fritzi fand sich wieder auf der Straße, die sie so mühsam abgeklappert hatte, bevor sie diese Stelle als Kellnerin bekommen hatte.
Vor kurzem hatte sie eine Stelle als Stubenmädchen in der Nachtschicht im Bleecker House, einem heruntergekommenen Hotel im Theaterviertel, angenommen. Der Hotelmanager, Mr. Oliver Merkle, war durchaus kein Gentleman, sondern ein schmieriger, ekelhafter Zeitgenosse, in Fritzis Augen die Verkörperung all dessen, was an
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