Fremde Federn
New York abstoßend und angsterregend war. Bei den weiblichen Angestellten hieß er entweder »Ollie der Oktopus« oder aber »Oh-Oh«, nach dem Aufschrei des Entsetzens, wenn sie ihn sahen.
Um zwei Uhr saß sie auf einer Bank im Vorzimmer von Shorty Lorenz, einem blonden Winzling von Mann, der siebenmal verheiratet gewesen war. Sechs weitere junge Frauen saßen zusammengedrängt da oder standen nervös herum; ein einziges Gesicht kam Fritzi bekannt vor, das des schmalen, blassen Mädchens mit dem schwarzen Pony, das sie schon bei ähnlichen Gelegenheiten gesehen hatte. Pauline Irgendwas. Pauline sah zu ihr hinüber, ohne sie zu erkennen.
Um Viertel nach zwei kam Shorty Lorenz mit einem Stapel Papiere in der Hand hereingerauscht. »Also dann, meine Süßen, hier haben wir ein Gesellschaftsdrama mit dem Titel: Lassen wir uns scheiden? Der Produzent ist Brutus Brown.« Ein paar kleine Juchzer waren zu hören und ein provozierendes Seufzen aus dem Mund eines schmalen Mädchens. Brown stand im Ruf eines Schürzenjägers.
»Sein Bühnenmanager ist da drin«, fuhr Lorenz fort. »Ihr werdet ihm nacheinander vorsprechen. Es handelt sich um die Rolle der Allyson, der Schwester des in Scheidung lebenden Ehemanns. Sie ist ein bißchen nervös und fahrig und hat einen ziemlich guten Auftritt, vier Seiten lang. Laßt euch fünf Minuten Zeit, schaut es euch an. Wir beginnen mit Miss Abrams.«
Fritzi war die dritte, die dem dickwanstigen Bühnenmanager, dessen Gesicht wie in Granit gemeißelt war, vorsprechen sollte. Er saß in der Mitte des Raumes auf einem Stuhl. Shorty Lorenz las den männlichen Part, den von Allysons Bruder. Fritzi verhaspelte sich mehrere Male - der Stil des Autors war schwerfällig - und sprach mit zu hoher Stimme; ihr Auftritt war eine Katastrophe. Aber als sie fertig war, verzog sich das Granitgesicht, mit väterlichem Lächeln schüttelte ihr der Bühnenmanager die Hand.
»Wie war gleich noch mal ihr Name?«
»Fritzi Crown.«
»Das war nicht schlecht, Fritzi. Wir rufen Sie gegebenenfalls heute abend an.«
»Danke, Sir.«
Als nächstes rief Lorenz Pauline ins Zimmer. Sie rauschte an ihr vorbei, als wäre Fritzi unsichtbar und absolut keine Konkurrenz.
Am Abend saß sie in der zweitletzten Balkonreihe im Lyric Theater. Ihre Karte hatte fünfundsechzig Cent gekostet, fünfzehn mehr als sonst. Parkettplätze kosteten fünf Dollar, alle waren besetzt. Nur eine Schauspielerin vom Rang einer Mrs. Patrick Campbell konnte die Preise derart in die Höhe treiben und das Haus bis zum letzten Platz füllen.
Das Stück Die zweite Mrs. Tanqueray steuerte dem Höhepunkt zu. Mrs. Pat hatte soeben im vierten Akt ihren tragischen Abgang gehabt. Paula Tanqueray war von ihrer Vergangenheit eingeholt worden -enthüllt war das Geheimnis, daß sie einst die Geliebte des Offiziers gewesen, der jetzt mit der Tochter aus Tanquerays erster Ehe verlobt ist. Die Tochter kommt auf die Bühne und ruft: »Ich habe sie gesehen! Es ist schrecklich!«
Tanquerays Freund fährt zurück. »Sie — sie hat ...?«
»Selbstmord begangen? Ja — ja! So wird man sagen.«
Fritzi war schwindlig, ob vor Aufregung oder Hunger konnte sie nicht sagen. Seit Sonntag abend hatte sie nur leichten Tee und ein paar harte Brötchen zu sich genommen, aus der Küche des Hotels, in dem sie arbeitete. Sie aß nicht gern, bevor sie vorsprach. Hunger schärfte die Sinne, wohingegen ein üppiges Mahl einen Schauspieler träge machte. Aber nach dem Vorsprechen bei Lorenz aß sie nichts, weil sie es sich nicht leisten konnte.
Tanquerays Tochter rang die Hände. »Aber ich weiß, ich bin schuld,
daß sie sich umgebracht hat ...«
Fritzi reckte den Hals. Kein Geräusch, kein Laut war im Publikum zu hören, alles starrte auf das erleuchtete Wohnzimmer auf der Bühne.
»... wenn ich nur etwas Mitleid gehabt hätte.«
Ohnmächtig sank die Tochter auf das Sofa. Das Publikum hielt die Luft an.
Der Freund zögerte, dann schritt er zur offenen Tür und sah hinaus, seine Miene und seine Gebärden verrieten Bestürzung, ja Entsetzen.
Der rote Samtvorhang schob sich zur Bühnenmitte. Das Stück war zu Ende.
Fritzis Herz raste, das Blut in ihren Schläfen pochte. Sie hatte schon große Bühnenschauspielerinnen gesehen, aber noch nie eine empfindsamere, ausdrucksvollere Vorstellung erlebt als diese mit Mrs. Pat.
Die Bühnenlichter richteten sich auf den Vorhang. Das Orchester, die Logen, das ganze Theater atmete wachsende Spannung, die sich in ohrenbetäubendem
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