Fremde Gäste
zurechtgewiesen worden. Wir nahmen daher an, daß es ein in der Familie gebräuchlicher Vorname sei, wie manche Eltern ihn ihren hilflosen Sprößlingen geben. Tantchen sah Larry strafend an, die sich krampfhaft zu beherrschen suchte, ein Kichern jedoch nicht unterdrücken konnte. Tantchen lächelte gezwungen.
»Ja, Larry, ich heiße Lavinia, und wenn Sie es je weitererzählen, ist’s aus mit unserer Freundschaft und mit all meiner Nachsicht.«
»Aber Lavinia ist doch ein schöner Name!« stotterte ich verwirrt. »Weshalb haben Sie sich nie so genannt oder uns davon erzählt?«
»Aus einem einfachen Grund, den Sie vielleicht nicht verstehen, Larry aber bestimmt. Es reicht mir schon, daß ich für die ganze Gegend >Tantchen< bin. >Tantchen Lav< ist einfach zuviel, und wenn Sie jemals dieses Geheimnis verraten, Larry, verkaufe ich hier alles und ziehe weg. Sie stören jetzt überhaupt eine Familienzusammenkunft! — Diana Graham, es freut mich, dich kennenzulernen! Du siehst genauso aus wie das Foto von deiner Mutter, das meiner Mutter gehörte. David kenne ich noch nicht. Sieht er dir ähnlich?«
»Ich weiß nicht. Es kann wohl sein. Ach, meine Liebe, ich bin so froh und so aufgeregt«, sagte Mrs. Hepburn fast ein wenig hilflos. »Als du etwa sechzehn Jahre warst, habe ich dich aus den Augen verloren; damals zogen die Deinen auf die Südinsel. Irgendwann hörte ich, du seiest >ins Geschäftsleben< eingetreten; aber Genaueres war nicht zu erfahren.«
»Nun wäre die Familie wohl entsetzt, daß ich einen Laden auf dem Lande betreibe.«
»Aber nein, du bist hier doch sehr erfolgreich! Sie wären riesig stolz auf dich. Endlich habe ich dich gefunden und... und...«
»Und das ist schön! — Nun, wenn Sie sich von Ihrem albernen Lachanfall erholt haben, Larry, könnten Sie vielleicht mit Susan den Tee machen. Wahrhaftig, es ist kaum zu glauben, daß Sie schon zwei Kinder haben... Susan, ich verlasse mich auf Sie, während Mrs. Hepburn und ich uns das Neueste aus den Familien erzählen.«
Ich war noch ganz verdreht, nahm die falschen Tassen aus dem Schrank und vergaß die Untertassen. Larry hatte ihre Fassung plötzlich wiedererlangt und war ganz vernünftig. Sie räumte alles richtig hin und fragte: »Susan, was ist denn mit dir los? Das hast du dir wohl auch nicht träumen lassen, daß Tantchen Lavinia heißt und noch andere Verwandte hat, außer ihrem Neffen in England; der zählt nicht. Eine Cousine ist schon etwas anderes. Die meisten Leute haben viele, aber bei Tantchen schien das nicht der Fall zu sein.«
»Warum eigentlich nicht? Das Besondere ist nur, daß ich einen jungen Mann auf der Straße mitgenommen habe, der ausgerechnet ein Verwandter von ihr ist. Er ist ganz anders, als man es von Tantchens Anhang erwartet hätte. So ultramodern und so weltfeindlich und — na ja, du kennst ja David.«
»Ich kenne ihn nicht und werde ihn wohl nie richtig kennenlernen. Für mich ist er ein Wunder mit seiner Macht über die Pferde.« Als sie dann den Tee einschenkte, brachte Larry das Gespräch auf dieses Thema, weil es ihr keine Ruhe ließ.
»Mrs. Hepburn, darf ich Sie etwas fragen? Wußten Sie eigentlich, daß David eine geheimnisvolle Macht über Pferde hat?«
Mrs. Hepburn sah ganz verlegen aus, als habe Larry sie gefragt, ob David öfters silberne Löffel stehle. »Ich wußte wohl etwas davon«, sagte sie. »Die anderen Mütter aus dem Pony-Klub erzählten mir davon. Und einmal verschwand er einen ganzen Tag und gestand uns später, er sei auf einem Gestüt gewesen. Aber mehr hat er uns nicht anvertraut; er wollte nie darüber reden. Er sagte, es sei eine rein zufällige Anlage und kein Grund, sich damit großzutun.«
»Aber er kann sich etwas darauf zugute tun! Es ist etwas, wovon man nur in Büchern liest. Ich wußte schon immer, daß es Menschen gibt, die eine Macht über Tiere haben. Bei David scheint es bei den Pferden der Fall zu sein. Mit Kühen kann er nichts anfangen, und der Bulle vom Colonel hat ihn neulich über die ganze Koppel gejagt; offensichtlich erstreckt sich also seine Macht nur über Pferde. Aber diese scheinen ihm völlig ergeben zu sein, obwohl er sich mit ihnen gar keine Mühe gibt.«
»Ich weiß. Es ist merkwürdig, denn meistens sind die Menschen, die diese Gabe besitzen, den betreffenden Tieren sehr zugetan. David schien nie eine besondere Vorliebe für Pferde zu haben. Aber das täuscht. Sein erstes Pony hat er zärtlich geliebt. Dann wurde er zu groß für ein Pony, und wir
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