Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Franka!, ruft er. Da bin ich schon im Flur. Mutter steht an der Wand und starrt mich an. Ich gehe in mein Zimmer, suche ein paar Sachen zusammen, fahre zu Esther.
Ein paar Wochen später ziehe ich in mein erstes eigenes Zimmer. Vater zahlt die Miete und überweist mir auch sonst was zum Leben. Er tut, als sei nichts gewesen.
Simon erholt sich und wohnt jetzt meistens bei mir. Er liest wieder und entwickelt neue Theorien. Kein Kaffee, kein Pfeifchen, kein Alkohol. Und regelmäßig Medikamente.
Immer häufiger kommt er mit zu meinen Vorlesungen und Seminaren. Ich werde das Abi nachmachen, verkündet er eines Abends.
Ende Januar gehen wir zum ersten Mal wieder auf eine Party. Versprich mir, dass du dich an die Regeln hältst. Simon nimmt mich in die Arme. Wann hörst du auf, immer Angst um mich zu haben? Gegen Mitternacht kommt eine Gruppe neuer Gäste, sie sind angetrunken und sehr laut. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich Lydia. Sie hat ihre Haare hochgesteckt, ist geschminkt, trägt ein enganliegendes, schwarzes Kleid. Ich habe sofort ein Gefühl von Gefahr. Na, Schwesterlein, sagt Lydia und legt mir die Hand auf die Schulter, willst du mich nicht deinem Freund vorstellen? Das ist deine Schwester?, fragt Simon erstaunt. Franka hat sicher nicht gut von mir gesprochen, säuselt Lydia, aber nun habe ich ja Gelegenheit, das Bild zu korrigieren. Ich heiße Lydia, und wie heißt du? Du weißt genau, wie er heißt, fauche ich. Jetzt sieh zu, dass du verschwindest. Moment mal, sagt Simon, warum bist du so grob zu ihr? Das frage ich mich auch seit meiner frühesten Kindheit, sagt Lydia und lächelt. Simon lächelt zurück. Ich will gehen, aber Simon will bleiben, will mit Lydia tanzen. Es dauert nicht lange und sie küssen sich.
Simon holt seine Sachen ab. Ich will nichts hören von Lydia und ihm, will nur, dass er geht. Wie betäubt sitze ich in meinem Zimmer, frage mich, wie man das macht, ein neues Leben anfangen.
Manchmal sehe ich die beiden im Eppendorfer Park. Erbärmlich sehen sie aus. Beide nehmen sie jetzt Drogen. Ich schaue weg, denke an mein nächstes Seminar.
Nach anderthalb Jahren treffe ich Simons Mutter im Supermarkt. Unser Sohn ist wieder in der Klinik, sagt sie bitter. Ihre Schwester hat ihn auf dem Gewissen. Ich bin nicht für die Taten meiner Schwester verantwortlich, sage ich. Es war seine Entscheidung, eine Beziehung mit ihr einzugehen. Entscheidung! Entscheidung! Sie hat ihn sich geschnappt, und später hat sie ihn fallenlassen, weil sie einen anderen hatte, zischt Simons Mutter und lässt mich stehen. Vor mir das Suppenregal, die Aufschriften verschwimmen. Ich halte mich an meinem Einkaufswagen fest, um nicht zu stürzen.
27.
D ie Ferien sind vorbei. Nachmittags fahre ich mit Lydia zu Merles Schule. Sie will Elisa und Frau Rathjens kennenlernen.
Wir stehen vor dem Gebäude, warten auf das Klingeln.
»Ich schaffe es nicht«, sagt Lydia plötzlich. »Lehrer sind ein Alptraum für mich.«
»Und Elisa?«
»Die treffe ich ein andermal. Ich warte im Auto.«
Lydia allein in meinem Wagen.
»Was ist?«
Ich gebe ihr den Schlüssel. »Nicht wegfahren.«
»Was muss ich tun, damit du mir endlich vertraust?«
»Aufhören, in meinen Unterlagen herumzuschnüffeln. Glaubst du, ich merke das nicht? Bei der Ordnung, die auf meinem Schreibtisch herrscht?«
»Ich käme nie auf den Gedanken …«
»Nein, natürlich nicht. Früher wärst du auch nie auf den Gedanken gekommen, mein Tagebuch zu lesen. Nur dass du es weißt. Die Zeiten haben sich geändert. Ich lasse mir so was nicht mehr gefallen.«
»Hast du früher auch nicht. Erinnerst du dich, wie du mich unter Wasser gedrückt hast?«
Ich sehe Lydia an.
»Damals hast du es abgestritten. Merkwürdig, dass Mutter mir nicht geglaubt hat, obwohl ich die Wahrheit gesagt habe.«
Lydia lächelt. Wie früher, wenn sie gerade noch mal davongekommen war. Sie hat wieder etwas von früher. Ihre Augen leuchten, der bittere Zug um den Mund ist fast verschwunden. Sie ist noch blass, aber nicht mehr verhärmt.
»Du kannst beruhigt sein. Ich habe dir deinen Anschlag auf mein Leben verziehen. Geschwister gehen eben manchmal grob miteinander um.«
Keine normale Grobheit, denke ich.
Abends kommt Esther.
»Tut mir leid, dass ich neulich nicht einspringen konnte.«
»Ich wusste gleich, dass es keinen Zweck hat. Merle will wahrscheinlich nicht mit Ann-Kristin spielen.«
»Das hätte ich gesagt. Es war wirklich ein zeitliches Problem.«
Wir trinken Rotwein,
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