Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
sprechen über Lydia, ihre Übernachtung in meiner Wohnung. Esther hält es für einen Fortschritt.
»Ich habe dir was mitgebracht«, sagt sie und zieht einen orangeroten Umschlag aus ihrer Tasche.
Mein Briefpapier.
»Erinnerst du dich an den Sommer, nachdem ich in deine Klasse gekommen war?«
»Vage …«
»Wir waren beide gerade sechzehn geworden. Meine Eltern hatten beschlossen, die ganzen Ferien in Paris zu verbringen. Mein Vater wollte in einem Archiv forschen.«
»Stimmt. Wir waren unglücklich, weil wir uns sechs Wochen lang nicht sehen konnten.«
»Aber wir haben uns regelmäßig geschrieben. Einen deiner Briefe habe ich kürzlich wiedergefunden.«
Sie reicht mir den Umschlag. Langsam ziehe ich den Brief heraus.
Liebe Esther,
das klingt toll, eine Wohnung im fünften Stock mit einem Blick über die Dächer der Stadt. Wenn Du wüsstest, wie gern ich jetzt mit Dir in Paris wäre!
Bei uns zu Hause klappt gar nichts mehr. Gestern Abend hat mein Vater mir verkündet, dass wir doch nicht mehr verreisen werden. Meiner Mutter ging es in der letzten Woche immer schlechter. Jetzt ist sie in eine Klinik eingeliefert worden.
Ich lasse das Blatt sinken. Mutter in einer Klinik?
Besuchen dürfen wir sie nicht, aber das ist vielleicht auch besser so. Lydia würde ihr die ganze Zeit nur was vorheulen. Weil sie wieder sitzengeblieben ist, weil mein Vater nicht mehr mit ihr spricht, weil sie sich mit der einzigen Freundin, die sie noch hatte, heillos verstritten hat.
Jetzt klammert sie sich wieder an mich. Sie tut mir leid, auch wenn sie mich oft nervt und ich dann wütend auf sie bin. Gestern hat sie mir gesagt, sie wünschte, sie wäre in der Schule so gut wie ich. Dann wäre Vater nicht so sauer auf sie. Aber sie schafft es nicht zu lernen. Wir haben es zusammen versucht. Sie ist immer sofort mit ihren Gedanken woanders.
Ich glaube, wir haben gar keine richtigen Eltern. Die müssten ihre Kinder doch so lieben, wie sie sind, oder?
Viele liebe Grüße
Deine Franka
»Ich habe nicht die geringste Erinnerung an diesen Brief.« Mein Mund ist trocken.
»Kein Wunder«, antwortet Esther. »Es war eine schlimme Zeit für dich.«
»Und das war erst der Anfang.«
Ich sehe Lydia vor mir. Sie läuft weinend auf mich zu. Ich nehme sie in die Arme, gebe ihr einen Kuss. Im nächsten Moment lacht sie wieder, reißt sich von mir los, tanzt durch den Flur.
Danach ging es mit Lydia stetig bergab. Aber für mich war dieser Sommer vielleicht die schlimmste Zeit. Ich war so zerrissen, habe mich für Lydia noch verantwortlich gefühlt. Später habe ich sie nur noch gehasst.
Ich gehe ins Bad, traue meinen Augen nicht. Lydia hat einen richtigen Busen. Sie steht vorm Spiegel in einem winzigen Bikini, weiß mit grünen Punkten. Ihre braungebrannte Haut, die langen Beine. Sie sieht meinen entgeisterten Blick. Steht mir gut, oder?, sagt sie und dreht sich. Gab’s den nicht ’ne Nummer größer?, frage ich. Der geht dir ja kaum über den Po. Und von deinem Busen sieht man auch alles. Das muss so, sagt Lydia und zieht das Oberteil noch etwas tiefer. Ich finde es nicht gut, wenn du mit dreizehn schon so rumläufst, sage ich. Das sendet die falschen Signale. Wieso falsche Signale?, fragt Lydia. Männer finden so was aufreizend, sage ich. Na und, sagt Lydia, nur kein Neid. Hast du Mutter den Bikini gezeigt?, frage ich. Wozu?, sagt Lydia.
Nachmittags im Schwimmbad steht sie neben einem Typen mit Goldkettchen. Er ist mindestens zwanzig. Komm, Lydia, wir schwimmen, sage ich. Lydia schüttelt grinsend den Kopf. Wer ist das denn?, fragt der Typ und legt seinen Arm um Lydias Schultern. Meine große Schwester, antwortet Lydia. Wahrscheinlich ist sie eifersüchtig. Die hat nämlich keinen Freund. Kein Wunder, sagt der Typ, so wie die aussieht, platt wie ’ne Flunder. Dafür ist sie gut in der Schule, sagt Lydia. Ich will auf sie zustürzen, will ihr eine knallen. Da zieht der Typ sie mit sich fort.
28.
L ydia ist immer häufiger unterwegs. Sie erzählt uns von Fahrten nach Eimsbüttel, Altona, St. Pauli. Leute treffen, Läden suchen.
»Was für Läden?«, fragt Merle.
»Für meinen Schmuck.«
»Überschätz deine Kräfte nicht«, sage ich.
»Mir geht’s gut.«
»Aber du bist so oft müde!«, ruft Merle.
Auch die Pflegerin hat Bedenken. Wenn Lydia nicht aufpasse, könne sie schnell wieder in der Klinik landen, höre ich sie einmal sagen.
Ein kalter, sonniger Tag.
Wir laufen am Elbstrand entlang, zusammen mit Jan. Es war Lydias
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